Die Rache des Samurai
Auftreten, die zu den besten und vertrauenswürdigsten Spitzeln im Spionage-Netzwerk des Palasts von Edo zählte.
»Ich erwarte Eure Befehle, Herrin«, sagte sie.
»Ich will wissen, wem die hier gehören«, sagte Aoi und wies auf die Kimonos. »Zeige sie allen Frauen im Palast, in den Villen der Beamten und in den Unterkünften der Dienerschaft.«
Denn wen konnte man besser nach der geheimnisvollen Zeugin fragen als die Frauen, die wie in einem goldenen Käfig im Palast lebten, verwöhnt und müßig? Diese Frauen waren begierig darauf, von ihren Männern und Dienerinnen den neuesten Klatsch und Tratsch in der Stadt zu erfahren.
»Die Frau, nach der ich suche, ist zum Zōjō-Tempel gegangen, um Nonne zu werden«, fuhr Aoi fort. »Aber es ist möglich, daß sie nach Hause zurückgekehrt ist.«
Nachdem Aoi ihrer Spionin zunächst die bloßen Fakten mitgeteilt hatte, die sie von Sano wußte, fügte sie ihre eigenen Erkenntnisse hinzu, um das Bild deutlicher zu machen. »Die Frau ist eine wohlhabende Bürgerin. Ihr Gatte ist vermutlich Reisgroßhändler. Und sie ist unglücklich, weil ihr Mann andere Frauen hat.« Die erstklassige Qualität der Kimonos war unverkennbar. Ebenso eindeutig waren die winzigen Reisspelzen an den Säumen – zu viele für eine reiche Frau, die ihre Küche nicht zu betreten brauchte, aber typisch für jemanden, der in der Nähe einer Reishandlung wohnte, mit einem Menschen zusammen, der dort arbeitete. Überdies hatte Aoi die unverwechselbare Aura des tiefen Kummers einer verschmähten Frau gespürt.
»Sie ist dick, älter als fünfundvierzig, und leidet unter Blutandrang in Nase und Brust.«
Dies alles hatte Aoi an den gespannten Nähten erkannt, der kaum merklichen Straffung des Stoffes an Hüften, Gesäß und Busen, den säuerlichen Ausdünstungen einer Frau, die über das gebärfähige Alter hinaus war, und an dem schwachen Salzgeruch von getrocknetem Schleim.
»Aber sie versucht mit allen Mitteln, jung und hübsch auszusehen. Sie trägt sehr viel Schminke.«
Aoi hatte zahllose winzige Körnchen von weißem Gesichtspuder und nahezu unsichtbare Schmierstellen von Wangenrot an den Ausschnitten beider Kimonos entdeckt. Überdies war die auffällig bunte Färbung des Stoffes einem jungen Mädchen angemessener. Und Aoi hatte das Tönungsmittel an dem langen schwarzen Haar auf der Zunge geschmeckt, bitter wie Galle.
»Frag alle, ob sie wissen, wie diese Frau heißt und wo sie wohnt«, endete Aoi. »Berichte mir morgen bei Sonnenaufgang.«
»Ja, Herrin.« Das Hausmädchen nahm die Kimonos, verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Aoi blickte ihr nach. Das Mädchen ist noch jung, dachte sie, aber eine tüchtige, gehorsame Arbeiterin. Sie ist sorgfältig darauf bedacht, ihre Einsamkeit und ihren Schmerz zu verbergen, wie einst auch ich. Sie würde mich als Tempelwächterin ebenso gut ersetzen, wie ich Michiko ersetzt habe …
Abrupt erhob sich Aoi, nahm einen Handfeger und eine Kehrschaufel und verließ die Hütte. Sie rannte durch den Wald zum Tempel, um dort mit der Arbeit zu beginnen, als könnte sie dadurch der Erkenntnis entrinnen, daß Sano ihr Leben verändert hatte, daß die Liebe ihre sorgfältig errichteten Verteidigungswälle hatte einstürzen lassen, so daß sie verletzlich geworden war.
Aoi hatte sich geschworen, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen. Ihren letzten Geliebten, Fusei Matsugae, hatte sie in den Tod getrieben. Wenn sie an ihn dachte, wenn sie sich bewußt machte, daß sie damals zerstört hatte, was ihr auf Erden am liebsten war, wurde sie von Schmerz und Haß auf sich selbst beinahe zerfressen Doch sie hatte ihren Schwur gebrochen und sich in Sano verliebt. Und sie konnte ihr Verhältnis nicht als oberflächlich abtun, als bloße lustvolle Begierde, die irgendwann gestillt war. Ebensowenig konnte sie sich einreden, daß ihre Zusammenarbeit mit Sano sich bloß auf Ziele gründete, die sich deckten – auf Sanos Wunsch, den Shōgun zu schützen, und auf ihren Wunsch, Yanagisawa zu vernichten.
Aoi eilte über die Pfade des Tempelgeländes und suchte nach irgendeiner Beschäftigung, die sie ablenken und ihr helfen konnte, die Wahrheit vor sich selbst zu verleugnen. Sie bog auf einen Gehweg ein, der in einen Garten führte, der eine Grenze zwischen dem Waldrand und dem Tempelbezirk bildete. Ein gepflasterter Gehweg führte an dem Gartenstück vorüber, auf dem Besucher des Tempels Spazierengehen und die Kirschbäume, Sträucher und Blumenbeete betrachten
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