Die Rache des Samurai
vortrat, fuhren die Hände der rōnin zu den Schwertgriffen, und in ihren Augen loderte eine tödliche Bedrohung auf. Diese beiden Männer zürnten der ganzen Welt und würden einen Kampf als willkommene Möglichkeit betrachten, ihrem Zorn Luft zu machen, selbst wenn es sich bei dem Gegner um einen Gefolgsmann des Shōgun handelte. Sie setzten darauf, daß Sano sein Leben höher schätzte als sie das ihre und daß er kampflos das Feld räumte.
Und damit hatten sie recht – zum Teil.
»Guten Tag.« Sano verbeugte sich höflich und ging die Gasse hinunter, stieg auf sein Pferd und ritt davon. Als er um die Kurve gebogen war, so daß er von der Villa aus nicht mehr gesehen werden konnte, schwang er sich aus dem Sattel, band sein Pferd wieder an und machte sich durch den Wald auf den Rückweg zur Villa, wobei er die Richtung zum Hintereingang des Gebäudes einschlug.
Er stieg die steile Hügelflanke hinauf und hielt sich stets in Deckung der Bäume, bis er zu der Straße gelangte, die hinter der Villa vorüberführte. Die Rückwand des mittleren und größten der drei Gebäude besaß mehrere Fenster, vor denen jedoch die Läden geschlossen waren. Einen Balkon gab es nicht. Vom mittleren Gebäude verliefen hohe Mauern nach beiden Seiten und umschlossen die zwei kleineren Gebäudeflügel und den Garten. Sano konnte keine Türen sehen, doch es mußte außer dem Vordereingang andere Möglichkeiten geben, ins Haus und hinaus zu gelangen; letzteres konnte für die Bewohner im Fall eines Feuers oder Erdbebens lebenswichtig sein.
Sano schaute sich um. Als er keine weiteren Wachen oder Diener sah, schlitterte er den Hang hinunter und schlich sich durch das hohe Gras zur Villa. Als er die mannshohe, irdene Mauer, die den Garten umschloß, aus der Nähe betrachtete, hörte er von irgendwo aus dem Inneren die hohe, zittrige Stimme einer Frau, die ein langsames, schwermütiges Lied sang.
»Das Grün der Wälder verblaßt zu Braun,
Wie schmerzlich es ist, daß der Frost
Auch die Pfingstrose welken läßt …«
Sano lächelte. Die Sängerin mußte Frau Shimizu sein. Behutsam versuchte er, das schwere, von Wind und Wetter gezeichnete Holztor zu öffnen. Es war verschlossen. Doch die Mauer war von einem Flechtwerk aus Efeu und wildem Wein überwuchert; einige der hölzernen Ranken waren so dick wie Sanos Handgelenk. So leise er konnte, kletterte er diese natürliche Leiter hinauf und spähte vorsichtig über den Mauerrand.
Er sah einen überwucherten Garten, der zur rechten und linken Seite von den Veranden der Untergeschosse begrenzt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens befand sich ein überdachter Wandelgang, der die beiden Gebäudeflügel miteinander verband.
Dann entdeckte Sano einen Pavillon in der Mitte des Gartens, an dessen Holzgitterwänden Wein- und Efeuranken bis hinauf zum strohgedeckten Dach wuchsen. Von diesem Pflanzenvorhang fast vollständig verborgen, kniete eine Frau im Inneren des Pavillons. Sano konnte nur ihren gesenkten Kopf und ihren blauen Kimono ausmachen, doch ihr klagender Gesang dauerte an:
»Die Vögel des Sommers sind fortgeflogen,
Die Liebe ist nicht mehr –
Auch mein Herz stirbt bald.«
Sano warf einen raschen Blick nach hinten; dann zog er sich die Mauer hinauf, schwang sich darüber hinweg, sprang in die Tiefe und landete auf einem Blumenbeet, das unter Efeu erstickte. Kaum hatte er sicheren Stand, rannte er zum Pavillon – und blieb wie angewurzelt stehen, als eine Tür auf dem überdachten Wandelgang knallend aufflog.
»He! Was habt Ihr da zu suchen?«
Die rōnin -Wächter stürmten auf ihn zu und zogen die Schwerter. Sano hielt seines bereits in der Hand. Er glaubte, ohne größere Schwierigkeiten mit diesen Männern fertig werden zu können, wollte aber kein weiteres Blutvergießen. Überdies würde es Frau Shimizu nicht gerade zum Reden ermuntern, wenn vor ihren Augen Männer starben, wo sie erst vor wenigen Tagen am Zōjō-Tempel Zeugin eines Mordes geworden war.
Ohne die rōnin aus den Augen zu lassen, rief Sano der Frau im Pavillon zu:
»Frau Shimizu, ich bin Sano Ichirō, der sōsakan des Shōgun. Ich will Euch kein Leid zufügen. Ich möchte nur mit Euch reden.«
Aus dem Pavillon drang gedämpftes Schluchzen.
Die Schwerter erhoben, umkreisten die beiden Wächter Sano. Der ältere blickte kampflustig; auf dem Gesicht des jüngeren spiegelte sich Unsicherheit.
»Ihr seid in Schwierigkeiten, nicht wahr, Frau Shimizu?« rief Sano. »Ihr fürchtet Euch.
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