Die Rache des Samurai
vernichtete, was ja ohnehin ihr sehnlichster Wunsch war? Sie hatte bereits Stunden damit verbracht, Pläne zu schmieden, wie sie den Kammerherrn töten könnte: mit Gift, einem Messerwurf, einem blitzschnellen Schlag, einem Pfeilschuß. Doch Yanagisawa war so vorsichtig wie jeder Mann, der viele Feinde besaß. Er hatte Vorkoster und Leibwächter. Selbst wenn man die phantastischen Fähigkeiten Aois im Anschleichen und im Kampf mit und ohne Waffen berücksichtigte, würde sie niemals nahe genug an Yanagisawa herankommen, um ihn töten zu können und anschließend zu fliehen. Sie konnte ihn auch nicht dadurch in Schwierigkeiten bringen, daß sie seine Intrigen an höherer Stelle meldete. Es gab keine höhere Stelle; Yanagisawa beherrschte den bakufu und den Shōgun. Niemand würde es wagen, gegen ihn vorzugehen, um Sano oder sie selbst zu schützen.
Aoi erwog sogar den Selbstmord. Aber der Freitod – auch wenn er sie von aller Verantwortung befreite – würde weder die Sicherheit Sanos noch die ihrer Familie gewährleisten.
Aoi schob diese sinnlosen Gedanken von sich. Der Bergwolf war damals in der Felsspalte verhungert. Sie mußte ihre Suche nach einem Ausweg aufgeben und ihre Pflicht erfüllen. Sano mußte sterben. Durch ihre Hand. Jetzt.
Sie kämpfte gegen die Tränen an, als sie ein Ohr an das papierene Türbrett drückte und lauschte. Sano atmete regelmäßig. Aoi sah bestätigt, was ihr besonderer Sinn ihr sagte: Sano schlief tief und fest. Sie wartete einen Augenblick, um sicherzugehen, daß das Papier mit dem Gift völlig verbrannt war. Dann nahm sie allen Mut zusammen und öffnete die Tür.
Er lag auf dem Bauch, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet. Sein Gesicht war Aoi zugewandt; der Schlaf hatte die Sorgenfalten geglättet und er sah jünger, unschuldiger und ruhiger aus als je zuvor. Aoi schluckte das Mitleid und den Haß auf sich selbst hinunter. Sie widersetzte sich dem Wunsch, Sano wachzurütteln und zu warnen; statt dessen trat sie ins Zimmer und schloß rasch hinter sich die Tür. Sie ging zum Futon und kniete neben Sano nieder. Das schaurige Heulen in ihrem Inneren wuchs zu einem ohrenbetäubenden Kreischen an; immer und immer wieder schrie es in Aoi:
Nein – nein – nein – nein – Aoi spürte, wie Sanos ruhiges, gleichmäßiges Atmen schneller wurde, unregelmäßiger, wie sein Puls sich beschleunigte. Sie sah seine Augenlider flattern: Er träumte. Doch Aoi wußte, das Mittel würde ihn nicht aufwachen lassen. Die Zeit war gekommen.
Nein – nein – nein – Mit zitternden Fingern zog Aoi eine lange, hölzerne Nadel aus ihrem Haar; sie besaß einen schwarzen Kopf aus Lack, der wie der Fächer einer vornehmen Dame geformt war. Aoi zog daran, und aus dem hohlen Holzschaft glitt ein scharfer, tödlicher, nadeldünner Dorn aus Stahl.
Aoi liefen Tränen über die Wangen, tropften ihr auf die Lippen. Sie wischte sie mit den Fingern fort. Die Schreie in ihrem Inneren ließen jede Faser ihres Körpers vibrieren. Sie nahm den Dorn in die zitternde rechte Hand und legte die Linke auf Sanos Nacken.
Bei der Berührung durchströmte Aoi ein Gefühl der Zärtlichkeit, doch sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihre Aufgabe. Als Sano sich im Schlaf wand und stöhnte, fühlte sie das Blut unter der Haut strömen, spürte die überwältigende Ausstrahlung seiner Lebenskraft. Sein Herzschlag dröhnte in ihren Fingern; der Puls beschleunigte sich weiter, bis er genauso schnell ging wie der Aois. Langsam, zärtlich fuhr sie mit der Hand über sein Rückgrat. Ihre tränennassen Finger hinterließen eine feuchte Spur auf seiner Haut.
Doch nun regte sich trotz Aois Seelenqual tief in ihr ein machtvoller Impuls: der Instinkt zu töten, der wie eine schlummernde Schlange erwachte, die sich zusammengeringelt hatte und sich nun langsam streckte. Aoi war durch ihre Ausbildung auf diese gefürchtete Aufgabe vorbereitet worden, und nun handelte sie reflexhaft, ohne nachzudenken. Ihre Finger ertasteten die Knochen von Sanos Rückgrat, suchten die feinen Ritzen zwischen den Wirbeln. Das Zittern der Hand, welche die tödliche Haarnadel hielt, endete. Vor dem inneren Auge sah Aoi die gewaltige Woge aus Energie, die heranflutete und die schrillen Schreie ihrer Seele erstickte. Sie sah die farbigen Lichter. Und das Bild ihres Vaters.
Er stand im Unterrichtsraum der Ninja-Schule in Aois Heimatdorf. Auf einem Tisch vor ihm lag bäuchlings ein nackter Mann, um den sich Schülerinnen drängten. Aoi sah eine
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