Die Rache des Samurai
Messer und Rasierklingen, legten sie in Schränke zurück und wischten die Bretter des Holzfußbodens auf. Die steinernen Tröge, die sich an einer Wand reihten, waren leer; das Wasser, mit dem die Leichen gewaschen wurden, war abgelassen worden. Sämtliche Fenster standen offen, und die kalte Zugluft wehte die unangenehmen Gerüche aus der Leichenhalle. Auf einem Podium in einer Ecke stand Doktor Ito, ein Mann um die Siebzig, mit kurzem, dichtem weißem Haar, das sich an den Schläfen lichtete. Er trug seinen langen, dunkelblauen Umhang, die traditionelle Kleidung der Ärzte. Als Sano zu ihm ging, schaute er von einem Buch auf, in dem er Notizen machte.
»Ah, Sano- san . Seid willkommen.« Seine klugen alten Augen leuchteten vor Freude auf, und ein Lächeln löste die Anspannung auf seinem knochigen, asketischen Gesicht, als er den Schreibpinsel zur Seite legte.
Vor fünfzig Jahren hatte der bakufu Japan praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, damit nach den Jahren des Bürgerkriegs wieder innere Festigkeit ins Land einkehrte. Nur den Holländern waren eingeschränkte Handelsprivilegien belassen worden. Ausländische Bücher wurden verboten, und jeder, der eine fremdländische Wissenschaft ausübte, wurde auf das härteste bestraft.
Doch einige mutige rangakusha wie Doktor Ito – Gelehrte, die der holländischen Sprache mächtig waren – beschäftigten sich im geheimen weiterhin mit dem verbotenen Wissen. Es hatte einen gewaltigen Skandal gegeben, als Doktor Ito – einst der Leibarzt der kaiserlichen Familie – bei verbotenen Studien ertappt worden war. Man hatte ihn verhaftet, vor Gericht gestellt und zu lebenslangem Dienst als Aufseher der Leichenhalle von Edo verurteilt. Doch dieser hochgebildete Mann hatte selbst hinter den Gefängnismauern eine Quelle des Trostes gefunden: Da die Behörden ihm keinerlei Beachtung mehr schenkten, konnte er ungestört Forschungen über die Anatomie des menschlichen Körpers anstellen; in Anbetracht der Tatsache, daß ihm ein nicht abreißender Nachschub an Leichen zur Verfügung stand, konnte er in Ruhe sezieren, studieren und seine Entdeckungen niederschreiben. Die Freundschaft zwischen Ito und Sano hatte begonnen, als der Arzt dem damaligen yoriki bei der Aufklärung seines ersten Mordfalles geholfen hatte.
Sano verbeugte sich. »Ich grüße Euch, Ito -san «, sagte er und hielt dem alten Mann das Päckchen hin. »Bitte, nehmt dies als Beweis meiner Freundschaft.«
Doktor Ito sprach die förmlichen Dankesworte und nahm das Päckchen entgegen, das Schreibmaterial enthielt; etwas anderes nahm er von Sano nicht an. Einmal, als Sano ihm Geschenke von größerem Wert machen wollte, hatte der Arzt sich geweigert, sie entgegenzunehmen; er hatte sich offensichtlich gedemütigt gefühlt, ein Objekt der Mildtätigkeit zu sein. Nun gab Sano die Lebensmittel, das Öl und die anderen Luxusgegenstände stets Mura, dem Eta, der sie dann heimlich in die Hütte des alten Arztes schmuggelte – so wie heute. Sie wußten alle drei, was vor sich ging, doch um Doktor Itos Stolz nicht zu verletzen, verloren sie nie ein Wort darüber.
»Und was führt Euch heute hierher?« fragte Doktor Ito und richtete seine durchdringenden Augen auf Sano. »Ich kann irgendwie spüren, daß es Euch um mehr geht als darum, einige Zeit in gleichgesinnter Gesellschaft zu verbringen.«
»Der Shōgun hat mir den Auftrag erteilt, Nachforschungen über den Mord an Kaibara Tōju anzustellen, dem der Täter den Kopf …«
»Abgeschlagen und eine Kriegstrophäe daraus gemacht hat«, unterbrach Ito den jüngeren Mann. Seine Miene wurde lebhafter; die Aussicht, Sano zu helfen, schien ihn mit unbändiger Freude zu erfüllen. »Ja, ich habe von dem Mord gehört. Und Ihr sollt die Nachforschungen anstellen? Das ist ja großartig!«
»So großartig nun auch wieder nicht«, erwiderte Sano. Er berichtete Doktor Ito von seinen Schwierigkeiten mit der Polizei und daß er am Schauplatz des Mordes nicht den kleinsten Hinweis entdeckt hatte.
Doch statt Mitgefühl zu zeigen oder einen Ratschlag zu erteilen, lächelte Doktor Ito nur geheimnisvoll und sagte: »Vielleicht sorgt Ihr Euch umsonst und zu übereilt.«
Hoffnungsvoll fragte Sano: »Wieso? Wißt Ihr irgend etwas?«
»Kann sein. Schon möglich.«
Normalerweise hätte Sano den Arzt gedrängt, mehr zu berichten, doch der verschmitzte Ausdruck in Itos Augen ließ ihn schweigen. Der alte Mann hatte wenig Freude genug im Leben, und Sano wollte ihn sein Geheimnis noch
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