Die Rache des Samurai
Gedanken, den Mörder mittels frischer Schwertwunden zu identifizieren.
Als Mura Kaibaras Schärpe losband, fiel ein kleiner brauner Beutel aus Baumwolle auf den Tisch. Sano hob ihn auf. Da der Beutel unter der Schärpe gesteckt hatte, war kein Blut daran. Ein weißer Jade -netsuke – ein Talisman – in Gestalt einer Heuschrecke, die auf einer Pflaume saß, war am Ende der Kordel befestigt, mit welcher der Beutel zugeschnürt war. Sano öffnete den Beutel und stellte fest, daß Silbermünzen darin waren. Da der Mörder Kaibaras Wertsachen nicht an sich genommen hatte, schied Raub als Mordmotiv aus. Und zum Glück für Sano hatten weder Leichenfledderer den Toten entdeckt, noch waren diebische Eta-Leichenträger am Werk gewesen. Sano steckte sich den Beutel und den netsuke unter die Schärpe seines Kimono.
»Morgen gebe ich die Sachen Kaibaras Familie zurück«, sagte er zu Doktor Ito, nachdem er ihm von Aois geplantem Ritual erzählt hatte, für das sie irgendeinen persönlichen Gegenstand des Toten brauchte.
Mura zog Kaibara den Umhang aus, dann den Kimono, die Hose und den Unter-Kimono, und beließ ihm nur den Lendenschurz, der fleckig von Kot und Urin war; beim Eintritt des Todes hatten sich Darm und Blase Kaibaras entleert. Die Kleidung hatte einen Großteil des Blutes aufgesogen, so daß nur die gräßliche Kruste geronnenen Blutes am Halsstumpf und blasse rosa Flecken am Rumpf und den Gliedmaßen zu sehen waren. Der Körper war klein und zerbrechlich, mit dünnen Muskeln und fahler, papierener Altershaut.
»Welchen Grund der Mörder auch hatte, Kaibara anzugreifen – auf den Kampf mit einem gefährlichen Gegner hatte er es nicht abgesehen«, bemerkte Sano trocken. »Dieser alte Mann war keine Herausforderung mehr.«
»Dreh ihn um«, sagte Doktor Ito zu Mura.
Sano beugte sich weiter vor, betrachtete die Leiche und kleidete das Offensichtliche in Worte: »Keine Schnittwunden oder Prellungen. Er wurde mit einem Schlag enthauptet. Der Mörder ist aus dem Nebel hervorgesprungen und hat ihn überrascht.«
Ito betrachtete den Halsstumpf des Toten. »Mura, säubere die Schnittränder.«
Der Eta holte einen Eimer Wasser; dann wusch und schrubbte er den Halsstumpf, bis die Kruste aus geronnenem Blut sich löste; das Wasser spülte die rotbraunen Klumpen zu einem Loch im Tisch und dann durch ein Bambusrohr in eine Abwasserrinne im Fußboden. Das Loch im Tisch gab gurgelnde Laute von sich, als das blutige Wasser hineinfloß. Sano kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder, als der Halsstumpf nun deutlich sichtbar wurde. Er versuchte, sich das rauhe rote Gewebe, die weißen Knochen und die durchtrennten Schlagadern als bloße abstrakte Gebilde vorzustellen, die nichts mit einem Menschen zu tun hatten; dennoch überkam ihn das scheußliche Gefühl, verunreinigt zu werden. Obwohl er die Leiche nicht berührt hatte, verspürte er das dringende Verlangen, sich die Hände zu waschen.
Doktor Ito hatte Sanos Unbehagen offensichtlich bemerkt, denn er sagte: »Mura, bedecke den Körper.«
Nachdem er die Wunde gesäubert hatte, holte Mura ein weißes Tuch aus einem Schrank und bedeckte damit die Leiche; nur den Halsstumpf, der noch genauer untersucht werden mußte, ließ er frei. Sanos Übelkeitsanfall verebbte. Jetzt, da der bleiche, schlaffe Körper nicht mehr zu sehen war, konnte er den Anblick der Wunde leichter ertragen.
»Danke, Ito -san «, sagte er.
Doktor Ito beugte sich vor, um den Halsstumpf genauer in Augenschein zu nehmen. Auf seinem Gesicht waren Konzentration und wissenschaftliches Interesse zu lesen, als er murmelte: »Keine Einrisse an den Wundrändern … die Oberfläche der durchtrennten Knochen ist glatt.« Er begleitete seine Worte, indem er mit dem Finger auf die betreffenden Stellen wies. »Der Schnitt wurde mit einer sehr scharfen Klinge vorgenommen, mit einem einzigen Schlag – rasch, wuchtig, ohne jedes Zögern, und mit der nötigen Kraft. Der Mörder wußte genau, was er tat!« Die seltsame Aura unterdrückten Triumphes, die Ito umgab, wurde stärker.
»Demnach ist der Mörder ein geübter Schwertkämpfer«, sagte Sano.
»Es sieht ganz so aus.«
Vor Enttäuschung stieß Sano laut den Atem aus. »Wißt Ihr, auf wie viele Männer in Edo dies zutrifft?« fragte er und dachte an die ungezählten Samurai, die auf den Anwesen der Feudalherren, der Daimyō, wohnten, wie auch im Palast des Shōgun. In Friedenszeiten hatten die meisten Samurai nur wenig anderes zu tun, als ihre Fähigkeiten im
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