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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Gewohnheit werden lassen, ihn an diesem Ort des Todes und der Entwürdigung ohne große Förmlichkeiten zu empfangen – ein Ort, den niemand freiwillig aufsuchte, insbesondere kein hochrangiger Samurai.
    Als Sano aus dem Sattel stieg und das Pferd durch das Tor führte, dachte er über die Veränderungen nach, die seit seinem ersten Besuch in diesem Gefängnis vor sich gegangen waren. Damals war er widerwillig hierhergekommen und hatte die scheußliche Untersuchung einer Leiche miterlebt, die mit den Ermittlungen in seinem ersten Mordfall zu tun hatte. Nie hätte er sich träumen lassen, irgendwann den Wunsch zu haben, noch einmal an diesen Ort zu kommen.
    Jetzt brauchte Sano niemanden mehr, der ihn durch das äußere Gelände führte, das aus Höfen, schmuddeligen Baracken für die Wachmänner und Verwaltungsgebäuden für die Gefängnisleitung bestand. Sano hatte seine tief verwurzelte Abneigung gegen diesen Ort fast überwunden – eine Aversion, die der Shinto-Religion entsprang, nach deren Grundsätzen er erzogen worden war und die es untersagte, mit Orten des Todes in Berührung zu kommen. Die Nähe des eigentlichen Gefängnisgebäudes, in dem die Insassen schreckliche Qualen erleiden mußten und unter menschenunwürdigen Bedingungen vegetierten, verursachte ihm nun keine Übelkeit mehr – ebensowenig wie seine Angst vor spiritueller Beschmutzung. Und auch nicht der Geruch nach Verfall, der wie ein faulig-feuchter Nebel über dem gesamten Gelände lag.
    Diesmal aber wäre Sano auf jeden Fall hierhergekommen, auch wenn seine anfänglichen Ängste und die Abscheu noch bestanden hätten – nicht seiner beruflichen Pflichten wegen, sondern um Doktor Ito Genboku aufzusuchen, den Aufseher der Leichenhalle von Edo und Freund Sanos, dessen wissenschaftlichen Fachkenntnisse ihm einst geholfen hatten, den Beweis zu erbringen, daß ein scheinbarer Doppelselbstmord in Wahrheit ein Mord gewesen war. Itos Klugheit und Freundlichkeit hatten damals dazu beigetragen, daß Sano die klassischen Konflikte des Samurai zwischen der Pflicht und der Leidenschaft sowie der Anpassung und dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit lösen konnte.
    Sano betrat den hintersten Hof in der Nähe der Rückwand des Gefängnisses und blieb vor einem niedrigen Gebäude mit verputzten Mauern und Rieddach stehen. Auf sein Klopfen wurde die Tür geöffnet, und ein kleiner, drahtiger Mann mit kurz geschorenem Haar und einem kantigen, ernsten Gesicht kam heraus und kniete sich auf den schmutzigen Boden, um sich zu verbeugen.
    »Mura«, begrüßte Sano ihn.
    Auch seine Abscheu gegenüber diesem Mann, einem Eta, hatte Sano überwunden. Die Eta – gesellschaftliche Außenseiter – stellten die Mannschaft des Gefängnisses und arbeiteten als Leichenträger, Hausmeister, Gefängniswärter, Kerkermeister, Folterknechte und Henker. Überdies erledigten sie die schmutzigsten Arbeiten in der Stadt: Sie leerten die Jauchegruben, sammelten die Abfälle und bargen nach Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Erdbeben die Leichen. Ihre auf Erbfolge beruhende Verbindung mit Berufen, die mit dem Tod zu tun hatten – dem des Metzgers oder Gerbers, zum Beispiel –, machte die Eta zu spirituell unreinen Menschen. Doch weil Mura sowohl ein Freund als auch der Helfer Doktor Itos war, hatte Sano gelernt, ihn mit einer Achtung zu behandeln, die einem Eta normalerweise nicht zuteil geworden wäre.
    »Geht es dem ehrenwerten Doktor gut? Ist er heute in der Lage, Besucher zu empfangen?« fragte Sano.
    »Es geht ihm gut wie immer, Herr. Und er freut sich stets, Euch zu sehen.«
    »Dann kümmere dich um mein Pferd.« Während der Eta sich vom Boden erhob, nahm Sano ein flaches Paket aus der schwer beladenen Satteltasche, steckte es sich unter den Arm und fügte hinzu: »Und lade die anderen Pakete ab.«
    »Ja, Herr.« Mura warf Sano einen raschen, wissenden Blick aus seinen tiefliegenden klugen Augen zu, als er die Zügel des Pferdes ergriff.
    Sano ging zur Tür der Leichenhalle und verspürte nun doch den eisigen Hauch der altbekannten, ängstlichen Anspannung. Er wußte nie, was er in dieser Halle zu sehen bekam. Zögernd, mit angehaltenem Atem, schritt er über die Schwelle; dann stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.
    In dem großen Raum arbeiteten andere Eta, die wie Mura in kurze Kittel aus ungebleichtem Leinen gekleidet waren, an hüfthohen Tischen und schnürten Hanfseile um Leichen, die bereits in weiße Baumwolle gewickelt waren. Andere Eta säuberten

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