Die Rache des Samurai
zur Morgendämmerung mit Noguchi verbracht und Abschriften angefertigt, alte Bände restauriert oder im Lampenlicht über historischen Schriftrollen gesessen, bis ihnen die Augen schmerzten.
Im Inneren des Palastgeländes ritt Sano ins Beamtenviertel und stieg vor dem Gebäude vom Pferd, in dem die Archive untergebracht waren. Die Wachposten – an die unregelmäßigen Arbeitszeiten ihres Vorgesetzten, Noguchi, gewöhnt – nahmen Sanos Pferd in Obhut und verbeugten sich, als er durchs Tor ging. An der Eingangstür des Archivgebäudes nahm ihn ein Diener in Empfang und führte ihn in den Studiersaal.
»Sano- san !« Noguchi, der sich an diesem Abend allein im Saal aufhielt, kniete in seiner Nische hinter einem Schreibpult, das mit Schriftrollen, brennenden Öllampen und Schreibzeug bedeckt war. »Was führt Euch hierher?« Als Noguchi sah, in welchem Zustand Sano sich befand, runzelte er so tief die Stirn, daß die Falten bis zu seinem rasierten Scheitel hinauf reichten. »Was ist denn mit Euch geschehen, mein Freund?«
Nachdem Sano ihm von dem Zweikampf berichtet hatte, erhob Noguchi sich hinter dem Schreibpult und umrundete seinen Besucher mit raschen Tippelschritten, wobei er sich die Blessuren besah. »Oh, nein! Große Güte! Soll ich einen Arzt rufen lassen?«
»Es geht mir gut«, versicherte Sano dem älteren Mann. Seine Schnittwunden brannten, waren aber nicht ernster Natur; er konnte sie behandeln, wenn er nach Hause kam.
»Darf ich Euch irgend etwas zu Essen anbieten?«
»Nein, danke, ich habe schon gespeist«, erwiderte Sano und hoffte, daß Noguchi endlich aufhörte, ihm seine Gastfreundschaft aufzudrängen. Sano hatte zwar seit Mittag nichts mehr gegessen, doch er wollte endlich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen kommen.
Nachdem Noguchi sich schließlich davon überzeugt hatte, daß mit Sano alles in Ordnung war, entspannte er sich und sagte: »Nun ja, auf jeden Fall bin ich froh, daß Ihr gekommen seid. Ich habe erfreuliche Neuigkeiten für Euch. Die Ueda haben Ort und Zeit für das miai zwischen Euch und Fräulein Reiko festgesetzt.«
»Das ist ja großartig«, sagte Sano und bemühte sich, Begeisterung in seine Stimme zu legen; denn die Verhandlungen über seine Hochzeit waren inzwischen hinter die bundori- Morde auf die zweite Stelle seiner persönlichen Wichtigkeitsskala abgerutscht. »Vielen Dank, Noguchi- san .«
»Es soll ein Treffen am Nachmittag sein. Übermorgen, am Kannei-Tempel«, fuhr Noguchi fort. »Natürlich nur, wenn es Euch und Eurer ehrenwerten Mutter zeitlich paßt.«
Als Sano sich diese erste wichtige Begegnung zwischen ihm und seiner vermutlichen Braut vorstellte, bemerkte er erstaunt, daß Ueda Reiko – die er nie zuvor gesehen hatte – das Gesicht und die Figur Aois besaß. Erschrocken sagte er: »Übermorgen paßt es meiner Mutter und mir ausgezeichnet«, und wiederholte seine Dankesfloskeln. »Jetzt aber benötige ich in einer anderen Sache Eure Hilfe.« Rasch erklärte Sano, daß er Informationen über Araki Yojiemon und Endō Munetsugu brauchte, und aus welchem Grund.
Noguchi blies die Wangen auf und ließ langsam den Atem entweichen. »Sano -san … «, sagte er dann stockend. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, Ihr hättet Euch … irgendwie die Feindschaft des Kammerherrn Yanagisawa zugezogen. Ich gehe natürlich davon aus, daß diese Gerüchte unbegründet sind.« Seine blinzelnden Augen bettelten Sano regelrecht an, mit ›ja‹ zu antworten.
Sano erkannte, daß seine Auseinandersetzung mit Yanagisawa sich herumgesprochen hatte. Die Wachposten und Diener, die bei seinem Treffen mit Yanagisawa und dem Shōgun zugegen waren, hatten offensichtlich Wasser auf die Gerüchtemühle des Palasts gegossen. Zweifellos hatte der Kammerherr des Shōgun – der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, Sanos Ruf zu schaden – höchstpersönlich an den richtigen Stellen abfällige Bemerkungen über ihn gemacht. Sano wußte, daß sein Niedergang begonnen hatte.
Offenbar spiegelte sein Zorn sich auf seinem Gesicht wider, denn Noguchi sagte kläglich: »Große Güte! Dann entsprechen die Gerüchte also der Wahrheit? Was habt Ihr getan, Sano -san? «
»Jedenfalls nichts, das Kammerherr Yanagisawa beleidigen könnte, soweit ich es ermessen kann.« Um seinem Zorn Luft zu machen, schritt Sano im Studiersaal auf und ab. Schließlich gab er dem Verlangen nach, sich dem einzigen Freund anzuvertrauen, den er im Palast von Edo besaß. »Der Kammerherr scheint großen Wert
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