Die Rache des Samurai
stand.
»Ich glaube, es ist die hier«, sagte Noguchi und tippte mit der Fingerspitze auf eine Kiste, die mit ›Oda Nobunaga‹ beschriftet war. »Und diese beiden da.«
Die letztgenannten zwei Kisten trugen die unmißverständliche Aufschrift: »Muß noch geordnet werden.« Sano half Noguchi, die schweren Kisten beiseite zu räumen, um an jene heran zu kommen, die von Bedeutung waren. Dann trugen die Männer die Kisten in den Studiersaal.
Mit dem ehrfürchtigen Gebaren eines Priesters, der ein heiliges Ritual vollzieht, kniete Noguchi neben der Kiste mit der Aufschrift ›Oda Nobunaga‹ nieder und hob den Deckel ab. Seine kleinen Augen funkelten. Sano, der neben ihm kniete, sah, daß die Kiste bis obenhin mit Schriftrollen gefüllt war – einige waren sauber und unbeschädigt, andere fleckig und rissig. Sano roch altes Papier und Moder: die Gerüche der Vergangenheit, die stets seine Neugier erregten. Obwohl er befugt war, die alten Dokumente zu berühren und die Worte von Zeitzeugen historischer Ereignisse zu lesen, hatte es ihm anfangs mißfallen, daß er zum Dienst in den Archiven eingeteilt worden war – aber nur, weil er hier keine Möglichkeit gesehen hatte, sich hervorzutun. Jetzt überkam ihn wieder seine Liebe zur Geschichte. Als er und Noguchi nun die Berichte und Urkunden über Oda Nobunagas Leben durchgingen und nach Erwähnungen seiner beiden Verbündeten suchten – Araki Yojiemon und Endō Munetsugu –, konnten weder Sano noch Noguchi der Versuchung widerstehen, auch Textabschnitte zu lesen, die für sie zwar nicht von Bedeutung, aber faszinierend waren.
»Große Güte!« rief Noguchi begeistert. »Hier sind die Schriften des Buddhapriesters Miwa.« Er löste den Knoten in einer verblaßten Kordel aus Seide, entrollte das Schriftstück und las laut:
»Fürst Oda Nobunaga war ein Ungeheuer, wie die Welt es nie zuvor gesehen hat. In seiner Gier nach Macht vernichtete er die eigene Familie, um die Gebiete der Provinzen Matsuda und Fukada an sich zu reißen. Einen seiner Onkel zwang er zum Selbstmord; einen anderen ließ er niedermetzeln. Er tötete seinen jüngeren Bruder, den ihrer beider Mutter durch Intrigen an Odas Statt zum Oberhaupt der Familie machen wollte. Später ließ er einen anderen Bruder abschlachten, um Herrscher der Provinz Owari zu werden. In blutigen Schlachten zerstörte er die Klans der Imagawa, Takeda und Saitō, wobei Hunderttausende von Soldaten ihr Leben ließen. Als er im Alter von neunundvierzig Jahren starb, hatte er ungezählte abgetrennte Köpfe und verwesende Leichen über das ganze Land verstreut und die Hälfte aller Provinzen der Nation erobert.«
»Nach dieser Beschreibung war Oda Nobunaga eher das fleischgewordene Böse als ein großer Fürst«, sagte Sano.
Noguchi legte die Schriftrolle beiseite. »Ihr dürft nicht vergessen, daß die Priesterschaft nichts für Oda Nobunaga übrig hatte. Als die Sekte der Ikko sich gegen ihn erhob, ließ Oda ihre Tempel niederbrennen und mehr als vierzigtausend Männer, Frauen und Kinder töten. Aber dessen ungeachtet war er der größte Kriegsherr seiner Zeit – ein Meister des gekokujō , der Revolte der Gefolgsleute gegen die Herren.«
Der Niedere bezwang die Hochrangigen: die typische Manier, wie ein Krieger zur Macht aufstieg, indem er seine Vorgesetzten stürzte. Nur wenige hatten dies so wirkungsvoll praktiziert wie Oda Nobunaga.
»Man kann sich wohl vorstellen, welche Genugtuung die Priesterschaft empfand, als sie erfuhr, auf welche Art und Weise Oda Nobunaga sein Leben ließ«, fuhr Noguchi fort. »Denn Verrat und Gewalt brachten ihm nicht nur die Macht, sondern auch den Tod. Hier steht geschrieben, was vor einhundertundsieben Jahren geschehen ist.« Noguchi öffnete eine weitere Rolle und las:
»Als Fürst Oda sich am Honno-Tempel in Kyōto einer Zeit der Muße erfreute, wobei ein kleines Heer als Schutztruppe bei ihm weilte, wurde er von der Armee eines einstigen Verbündeten belagert, der zum Verräter geworden war: General Akechi Mitsuhide. Fürst Odas kleine Truppe wurde niedergemetzelt, als sie versuchte, ihren Herrn zu verteidigen. Schließlich kämpfte Fürst Oda ganz allein gegen die Angreifer. Die Kugel aus einer Arkebuse zerschmetterte ihm den Arm. Ohne Hoffnung auf Überleben zog Fürst Oda sich in die Tempelhalle zurück und beging seppuku , um sich der Gefangennahme zu entziehen. Sein Körper wurde von den Flammen des brennenden Tempels verzehrt.«
»Ein Mord an einem Fürsten? Was für ein
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