Die Rache des Samurai
Unbekannte würde es nach dem mißlungenen Mordanschlag wahrscheinlich noch einmal versuchen. Wann würde der nächste Angriff erfolgen?
Seit einiger Zeit folgte ihnen ein Samurai in einem Umhang und mit einem breitkrempigen Hut. War auch er ein gedungener Mörder, der nur auf den geeigneten Augenblick für einen Angriff wartete?
Sano spähte zwischen dem Brückengeländer hindurch auf den Fluß. Tief unter ihm trieben Fähren, Barken und Fischerboote rasch über das braune Wasser dahin. Ein Fährmann hob ein Ruder zum Gruß aus den trüben Fluten. Sano wandte den Blick ab. Über Nacht hatte ganz Edo sich in einen düsteren Ort verwandelt. Jeder Fremde war möglicherweise der Spitzel eines unbekannten Feindes; jede Begegnung bedeutete Gefahr. Hirata, dem Sano von dem Angriff erzählt hatte, hielt sich stets dicht bei seinem Vorgesetzten; seine Hand lag am Griff seinen kurzen Schwertes, und er war bereit, Sanos Leben zu verteidigen. Hiratas Besorgnis rührte Sano, doch die Anwesenheit des dōshin bedeutete eher ein zusätzliches Problem für ihn. Sano mußte an einen anderen jungen Gehilfen denken, der ihn einst auf einer ähnlichen Reise begleitet hatte und dabei ermordet worden war. Angesichts dieser schmerzlichen Erinnerung wäre Sano einem Angreifer lieber allein gegenübergetreten, als um seiner Sicherheit willen Hiratas Leben aufs Spiel zu setzen.
Sie gelangten auf die Ostseite des Flusses, wo Lagerhäuser, Piers und Anlegestellen das Ufer säumten. Dahinter bildete ein Labyrinth aus Häusern, Läden und Marktplätzen eine der blühenden Vorstädte Edos. Im Norden erhob sich der E-ko-in – der Tempel der Hilflosigkeit –, der über der Begräbnisstätte der Opfer des großen Feuers vor zweiunddreißig Jahren errichtet worden war. Sano ritt voran, als er und Hirata nach Süden über eine Straße trabten, die parallel zum Fluß verlief und hinter den Lagerhäusern entlangführte.
»Aoi hat gesehen, wie der Mörder an Holzstapeln und Kanälen vorbeikam, in denen Baumstämme trieben«, erklärte Sano.
Hirata nickte. »Die Holzplätze von Honjo.«
Die Straße endete am Tatekawa, einem kleinen Nebenfluß des Sumida. Auf den Holzplätzen an den Ufern waren Arbeiter damit beschäftigt, Baumstämme zu zersägen und zu hobeln; die fertigen Bretter wurden auf Barken geladen, die sie dann nach Edo brachten. Die klare Morgenluft war erfüllt von den Rufen der Männer und den Geräuschen der Sägen, Hämmer und Hobel. Das Sonnenlicht zauberte aus den Sägespänen einen goldfarbenen Nebel, der den harzigen Duft von frisch geschnittenem Holz besaß. Vom Tatekawa zweigte ein Netzwerk aus Kanälen ab, in denen unzählige Baumstämme trieben, die man aus den Wäldern im Osten herbeigeschafft hatte. Kräftige Flößer lenkten die Stämme mit langen Pfählen in die gewünschte Richtung, wobei die Männer mit so sicheren Schritten darüber hinwegschritten, als wären sie an Land.
Während Hirata Wache stand und nach Angreifern Ausschau hielt, erkundigte Sano sich bei den Holzarbeitern, ob sie von einem verlassenen Haus in den Sümpfen wußten, das am Zusammenfluß zweier Kanäle stand und dem Helm eines Samurai ähnelte.
»An unserer Strecke liegt nichts dergleichen«, sagte der Vorarbeiter einer Flößermannschaft.
»Von einem solchen Haus wissen wir nichts«, lauteten die Antworten der Holzarbeiter, Lastenträger und Flußschiffer. »Wir dringen ja nicht tief in die Sümpfe vor.«
Sano gab es auf und sagte zu Hirata: »Wenn der Mörder oft zwischen dem Haus und der Stadt hin und her reist, kann es auf jeden Fall nicht allzu weit weg sein.«
Hinter den Holzplätzen begann das freie Sumpfland. Auf einer schmalen Straße, die von Ingwer, Ginseng, Lilien und anderen Frühlingsblumen gesäumt wurde, ritten die beiden Männer nach Osten. Der klare blaue Himmel spiegelte sich in Teichen und Tümpeln, neben einsam stehenden Bäumen die einzigen Abwechslungen in der riesigen, eintönigen Weite aus üppigen grünen Gräsern. Die Äste der Weiden bildeten anmutige Bögen, dicht mit den zartgrünen Blättern des Frühlings bewachsen. Je tiefer Sano und Hirata in die Einsamkeit der Sümpfe vordrangen, desto mehr Tiere bekamen sie zu sehen: Wildgänse schrien, und am Himmel über ihnen kreischten Möwen. In den Teichen glitten Fische umher; Wasserratten huschten durchs Ufergras; Sumpfschildkröten lagen träge in der Sonne, und weiße Kraniche waren auf der Jagd nach Fröschen und Wasserinsekten, Stechfliegen und Mücken.
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