Die Rache des Samurai
brauchte den Abt gar nicht erst auf den Rückgang der Spenden und die Abwanderung ungezählter Gläubiger zu anderen Tempeln hinzuweisen, die sich ergeben würden, falls eine solche Nachricht sich verbreitete. Der Abt lenkte ein – wenn auch mit einer verletzten Würde, die Sano mehr schmerzte, als es bei einer unverblümten Zurückweisung der Fall gewesen wäre. »Wie Ihr wünscht, sōsakan-sama «, sagte der Abt und befahl seinen Gehilfen, ein Zimmer vorzubereiten und die Bruderschaft zusammenzurufen. »Aber Ihr verschwendet Eure Zeit. Niemand kann Euch helfen.« Er hielt inne. »Das heißt … eine Person könnte es möglicherweise.«
Sano horchte auf. Gab es vielleicht doch einen Zeugen?
»Gestern, am frühen Abend, kam eine Frau zum Tempel und bat um Unterkunft«, erklärte der Abt. »Sie wollte dem weltlichen Leben entsagen, behauptete sie, Und Nonne werden. Ich habe ihr ein Zimmer in der Gästeunterkunft gegeben, bis sie in ein Nonnenkloster unserer Bruderschaft aufgenommen werden konnte. Ich glaube, diese Frau hat den Leichnam entdeckt und die Glocke geläutet. Denn nach den Abendgebeten hat sich keiner der Mönche, Novizen oder Diener im Freien aufgehalten.«
Sano holte tief Atem, um sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. »Dann muß ich mit ihr sprechen. Wo ist sie?«
»Ich fürchte, sie ist verschwunden.«
»Verschwunden?« entgegnete Sano entgeistert. »Was meint Ihr damit?«
In einer hilflosen Geste breitete der Abt die Arme aus. »Als die Wachmannschaft das Gelände absuchte, nachdem Bruder Endōs Leichnam entdeckt worden war, haben die Brüder festgestellt, daß die Gästeunterkunft leer und die Frau fort war. Sie muß geflüchtet sein, nachdem sie die Glocke geläutet hat.«
»Also gut«, sagte Sano und stellte rasch seinen Plan um. »Dann gebt mir ihren Namen und sagt mir, wo sie wohnt, damit ich sie aufsuchen kann.«
Der Abt schüttelte den Kopf. »Ich muß Euch leider sagen, daß sie uns keine Auskunft über ihre Person gegeben hat.«
»Sie hat Euch nicht gesagt, wer sie ist oder woher sie kam? Und Ihr habt sie trotzdem aufgenommen?« Sanos Enttäuschung verwandelte sich in Zorn. »Sie hätte eine Ehefrau sein können, die ihrem Mann fortgelaufen ist, oder eine Tochter, die ihren Eltern davonlief – oder eine Verbrecherin, die sich dem Gesetz entziehen wollte!«
» Sōsakan-sama .« Verärgerung straffte das glatte Gesicht des Abts. »Wir weisen niemanden ab, der zu uns kommt, um Zuflucht zu suchen. Daß Ihr Euch so erregt, zeugt von einem verachtenswerten Mangel an Verständnis für die Barmherzigkeit und Gnade, den unser Glaube uns vorschreibt.«
»Ich bitte um Vergebung, ehrwürdiger Abt.« Im stillen schimpfte Sano auf sich selbst, daß er unter der Anspannung seiner Nachforschungen die Beherrschung verloren und sich wie ein unwissender Flegel benommen hatte. »Vielleicht kann ich die Frau aufspüren, wenn Ihr sie mir beschreibt und mir berichtet, was sie gesagt hat.«
»Gewiß«, entgegnete der Abt beschwichtigt. Seine Miene wurde weicher und sein Blick milder, als er sich zu erinnern versuchte. »Sie war ziemlich klein, und nicht mehr jung. Sie trug einen schlichten schwarzen Kimono ohne Wappen. Und sie sagte, daß sie in ein Nonnenkloster eintreten wolle, weil sie in ihrer Ehe unglücklich sei.«
»Weshalb war sie unglücklich?« hakte Sano nach. »Hat ihr Gatte sie geschlagen? War er Trinker? Oder ein Lüstling? Oder ein Geizhals? Waren die Schwiegereltern grausam zu ihr?«
Der Abt schüttelte den Kopf. »Sie hat nichts dergleichen gesagt, und ich habe sie auch nicht gedrängt, irgendeine Erklärung abzugeben. Schließlich war sie hierhergekommen, um all diese Probleme hinter sich zu lassen.«
»Wie sah ihr Gesicht aus? Wie hatte sie ihr Haar gekämmt? Hat sie wie eine vornehme Dame gesprochen, oder wie eine gewöhnliche Frau?«
»Es tut mir leid, sōsakan-sama . Ihr Haar war bedeckt, und ihr Gesicht verschleiert, und ich habe nur einen Augenblick mit ihr verbracht. Viele Leute kommen hierher, um Zuflucht zu suchen. Da kann ich mich an diese eine Frau nicht genau erinnern.«
Doch Sano ließ nicht locker. »Hat außer Euch noch jemand anders sie gesehen?«
»Nein. Sie verhielt sich so, als wollte sie nicht gesehen werden – sie hat nicht einmal die Diener auf ihr Zimmer gelassen, um ihr eine Mahlzeit zu bringen; sie mußten das Essen vor die Tür stellen.«
Eine Zeugin, die etwas so Schreckliches gesehen hatte, daß sie die riesige Tempelglocke läutete – ohnehin
Weitere Kostenlose Bücher