Die Rache des Samurai
und Samantabhadra, die auf weißen Elefanten saßen, der sechzehn Apostel und einer Buddhastatue in einem Schrein.
Die stählerne Faust der Anspannung krampfte Sanos Magen zusammen, als er sich fragte, wie er auf diesem heiligen Boden mit seinen Befragungen beginnen sollte. Kurz darauf wurde die Tür des Wachhauses auf der nach innen, zum Tempel gelegenen Seite geöffnet.
»Der ehrwürdige Abt«, verkündete der Mönch ehrfurchtsvoll.
Der Abt des Zōjō-Tempels kam über den von Fackellicht erhellten Gehweg, gefolgt von vier Mönchen. Der kahlgeschorene Kopf des Abts erhob sich über die seiner Untergebenen; sein Schulterumhang aus Seidenbrokat – das äußere Zeichen seines Amtes – schimmerte im Licht. Als Sano den Abt wiedersah, erwachten in seinem Inneren die Ehrfurcht und die Ängste zum Leben, die er in seiner Kinder- und Jugendzeit diesem Mann gegenüber empfunden hatte, der für ihn einst die höchste Autorität verkörpert hatte. Als Sano sich respektvoll verbeugte, mußte er sich dagegen wehren, daß diese Empfindungen wieder vollends Besitz von ihm ergriffen. Es würde die Nachforschungen gefährden, wenn er die Befangenheit und Unsicherheit seiner Jugend zeigte.
»Sano Ichirō.« Die Stimme des Abts war schleppend und monoton; eine Eigenart, die jahrzehntelange klösterliche Sutra-Sprechgesänge hervorgebracht hatten. »Es ist viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.«
Sano straffte sich und legte den Kopf leicht in den Nacken, um dem größeren Mann in die Augen schauen zu können. »So ist es, ehrwürdiger Abt«, entgegnete er; dann stellte er dem Abt Hirata vor.
Sano hatte erst zweimal mit dem Abt gesprochen: im Alter von sechs Jahren, beim Aufnahmegespräch für die Klosterschule, und ein zweites Mal nach Abschluß seiner Ausbildung. Nun sah er zu seinem Erstaunen, daß der Abt sich in den sechzehn Jahren, die seither vergangen waren, kaum verändert hatte.
Auf dem kahlen Schädel waren zwar Altersflecken zu sehen, und die dichten Augenbrauen waren weiß geworden; doch obwohl der Abt inzwischen über siebzig Jahre alt sein mußte, hatte er sich die Ausstrahlung jugendlichen Elans bewahrt. Noch immer war sein massiger Körper gerade und kräftig, sein ovales Gesicht nahezu faltenlos, und die markanten Gesichtszüge hatten nichts von ihrer Strenge und Entschlossenheit verloren. Auch das klare, ruhige Licht in seinen Augen hatte die Zeit nicht trüben können. Diese Augen – gütig und allwissend – betrachteten nun Sano, dem plötzlich wieder die Worte einfielen, die der Abt beim Abschied aus dem Kloster zu ihm gesagt hatte:
»Dein Geist ist von Forscherdrang erfüllt, mein Sohn, und du hast die Gabe, Wahrheiten aufzudecken. Diese Gabe kann ein Segen sein, aber auch ein Fluch. Werden die Wahrheiten, die du enthüllst, dir und der Welt Düsternis und qualvolles Leid bringen, oder Licht und heitere Ruhe?«
Jetzt fragte sich Sano, ob auch der Abt sich an dieses Gespräch erinnerte. Mit der Überheblichkeit der Jugend hatte er damals der einsichtsvollen Bemerkung des Älteren keine Bedeutung zugemessen. Nun erkannte er, daß der Abt recht gehabt hatte. Nie hätte Sano damit gerechnet, welche Gefahren seine Wahrheitsliebe eines Tages heraufbeschwören würde.
Nachdem der Abt Sano als ehemaligen Schüler wiedererkannt hatte, verzichtete er darauf, ihre Bekanntschaft aufzufrischen. Als Politiker und geistiger Führer gleichermaßen klug und erfahren, wußte er zweifellos genausoviel über den sōsakan des Shōgun wie jedes Mitglied des bakufu . Wahrscheinlich hatte er sogar schon Sanos alte Schulakten eingesehen, um sich auf ihre Begegnung vorzubereiten.
»Ich hielt es für das Beste, erst Eure Ankunft abzuwarten, bevor ich mich dem Leichnam eines unserer Brüder zuwende, der heute nacht ermordet wurde – Endō Azumanaru«, sagte der Abt. »Selbstverständlich erhaltet Ihr bei der Suche nach seinem Mörder unsere volle Unterstützung.«
Endō .
Sanos Erleichterung, daß der Abt ihm bei den Nachforschungen helfen wollte, wurde von einer Woge der Erregung fortgeschwemmt. Der Tote zählte zum Endō-Klan! Als der Abt und sein Gefolge ihre Besucher über den steilen Gehweg hinauf zum inneren Bereich des Tempels führten, fragte Sano: »War der ermordete Mönch ein Nachkomme von Endō Munetsugu?«
»Ja, gewiß. Bruder Endō trat unserem Orden bei, nachdem er sich aus Altersgründen aus dem Dienst im bakufu zurückgezogen hatte.« Viele Samurai führten im Alter ein
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