Die Rache des Samurai
kein leichtes Unterfangen für eine Frau – und dann aus dem Tempel flüchtete. Und keiner wußte, wer sie war, oder wo man sie finden konnte. Sano verfluchte sein Pech.
»Hat sie irgendwelche Gegenstände zurückgelassen?« fragt er.
»Ja. Ein Paar Kimonos.«
Wenn Frauen nichts von Wert besaßen und in ein Kloster eintraten, brachten sie manchmal ihre besten Kleidungsstücke als Gaben mit, um für Unterkunft und Essen zu bezahlen. Vielleicht ließen die Kimonos dieser Frau Rückschlüsse darauf zu, wer sie war. »Kann ich die Sachen sehen?« fragte Sano.
»Gewiß. Sie sind im Schreibsaal.«
Der Abt führte Sano in einen anderen, kleineren Bereich der Tempelanlage. Dort angelangt, schritten sie über einen Gehweg, der zwischen zwei Schlafsälen hindurch führte – lange, niedrige Gebäude mit vergitterten Fenstern, verputzten Mauern, Brettertüren und schmalen Veranden. Ein Geräusch aus dem Schlafsaal zur Linken erregte Sanos Aufmerksamkeit. Er hob den Blick und sah ein geöffnetes Fenster und den kahlgeschorenen Kopf eines Jungen von vielleicht zehn Jahren. Auf seinem Gesicht entdeckte Sano Neugier und Aufregung, wie es unter den gegebenen Umständen bei einem Jungen dieses Alters nicht anders zu erwarten war. Doch es spiegelte sich noch etwas anderes in seiner Miene. Scham? Schuldgefühle?
»Wer ist der Junge?« fragte Sano den Abt und wies zu dem Fenster hinauf.
Der Abt warf einen kurzen Blick in die Höhe. »Das ist Kenji, einer unserer Novizen. Der Sohn eines Bauern. Kenji ist nach mehreren Mißernten seiner Familie nach Edo gekommen, um hier sein Glück zu suchen. Einer unserer Brüder fand den Jungen halb verhungert auf der Straße und rettete ihm das Leben.«
Als Kenji den Abt und Sano erblickte, erschrak er heftig, schlug hastig die Fensterläden zu und verschwand. Einer plötzlichen Regung folgend, entschuldigte sich Sano und kehrte zum Hauptplatz des Klosters zurück. »Hirata!« rief er.
Hirata unterbrach seine Inspektion der Umgegend des Glockenturms und eilte zu Sano hinüber.
»Im Schlafsaal auf der linken Seite, im Obergeschoß, befindet sich ein Novize namens Kenji«, sagte Sano. »Ich glaube, er weiß irgend etwas über den Mord. Sieh zu, ob du es herausfinden kannst.«
Wahrscheinlich sprach das verängstigte Bauernkind bei einem dōshin offener und freimütiger, als bei einem direkten Untergebenen des Shōgun. Überdies vermutete Sano, daß in Hirata Talente schlummerten, die bislang noch nicht zum Vorschein gekommen waren – darunter die Fähigkeit, Zeugen zu vernehmen.
Im Schreibsaal des Klosters – einem großen Raum mit kunstvoller Deckenvertäfelung, eingebauten Schränken und Regalen voller Bücher und Schriftrollen – schaute Sano sich die Kimonos der geheimnisvollen Frau genauer an. Beide waren aus erstklassiger, teurer Seide genäht. Der eine war purpurrot, mit einem wunderschönen Stickmuster, das weiße Kraniche und Schneeflocken, grüne Kiefernzweige und orangefarbene Sonnen zeigte – der Jahreszeit angemessen. Der andere war ein grauer Herbstkimono, mit Glockenblumen, Herbstgräsern, Bambus, gelbem Klee und wilden Nelken bedruckt. Sano fielen die Einsatzstücke an den Ärmeln auf, die sich in Hüfthöhe befanden; sie wurden üblicherweise von verheirateten Frauen oder älteren Damen getragen. Beide Kimonos waren in hervorragendem Zustand, doch Sano wußte nur wenig über Mode, und er vermochte nicht zu sagen, ob die Kimonos neu waren oder ob es sich um ältere Kleidungsstücke handelte, welche die Frau nur zu besonderen Anlässen getragen hatte. Überdies konnte er nicht erkennen, ob die Kimonos einer Samurai-Dame oder der Gattin eines reichen Kaufmanns gehörten.
Sano faltete die Kleidungsstücke zusammen und steckte sie sich unter den Arm. »Ich nehme die Kimonos mit«, sagte er, »und bringe sie so rasch als möglich zurück.« Vielleicht konnten die Schneider im Palast ihm sagen, wer die Kimonos hergestellt hatte.
Sie verließen den Schreibsaal und schritten den Gehweg hinunter. Sano sah, daß Hirata auf ihn zukam. Bei ihm war eine kleine Gestalt mit kahlgeschorenem Kopf, die einen Umhang aus Hanf trug: der Novize Kenji.
»Kenji hat Euch etwas zu berichten, sōsakan-sama «, verkündete Hirata.
Als der Novize den Abt sah, wich er zurück, die Augen vor Angst geweitet. Offenbar wollte der Junge nicht, daß sein höchster geistiger Herr hörte, was er zu sagen hatte. Sano wandte sich an den Abt und sagte: »Ich möchte gern allein mit Kenji sprechen,
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