Die Rache des Samurai
ruhiges, beschauliches Leben. »Bruder Endō war sehr stolz auf seine Herkunft. Aber woher wißt Ihr davon?« Für einen Moment spiegelte sich Mißfallen auf dem ruhigen Gesicht des Abts. »Haben die Torwächter Euch erzählt, daß am abgetrennten Kopf Bruder Endōs ein Schildchen befestigt war, auf dem der Name Endō Munetsugu stand?«
Sano und Hirata tauschten einen Blick, aus dem mühsam unterdrückter Triumph sprach. Dieses vierte Opfer hatte bewiesen, daß Sanos Theorie stimmte.
»Nein, mir wurde nichts davon erzählt«, entgegnete Sano, um die Wachen vor einer drohenden Bestrafung wegen Ungehorsams zu bewahren. Statt dessen erklärte er dem Abt mit kurzen Worten die Zusammenhänge.
Am Ende des Gehwegs durchschritten die Männer ein Torii-Tor, wie es in Shinto-Schreinen anzutreffen war, und stiegen dann die Stufen hinauf.
»Was hat Bruder Endō nach Einbruch der Dunkelheit im Freien getan?« fragte Sano. Die Mönche standen mit dem ersten Morgengrauen auf und begaben sich normalerweise früh zu Bett.
»Er war der für die Nachtwache zuständige Aufseher.«
Jetzt erkannte Sano, daß der bundori -Mörder seine Opfer gezielt auswählte und sich mit ihren Gewohnheiten vertraut machte, um dann zu einem geeigneten Zeitpunkt und am richtigen Ort zuzuschlagen. Jeder Angehörige des banchō hätte dem Mörder von Kaibaras Besuchen im Apothekerviertel erzählen können; hingegen mußte der Mörder bezahlte Spitzel eingesetzt haben, um den Aufenthaltsort des rōnin Tōzawa herauszufinden. Und um von Bruder Endōs Aufgabe zu erfahren, in der heutigen Nacht den Wachdienst zu leiten, mußte der Täter jemanden gefragt haben, der im Tempel lebte. Der Gedanke an eine dermaßen überlegte und berechnende Vorgehensweise des Mörders ließ Sano das Blut in den Adern gefrieren.
Am oberen Ende der Treppe gelangten die Männer in einen umschlossenen Gang mit Ziegeldach, der die innere Mauer des Tempels bildete. Durch die kleinen Fenster konnte Sano verängstigte Gesichter sehen, die zu ihm hinaus auf den Gang schauten, und er hörte geflüsterte Gespräche. Noch bevor er den inneren Bereich des Tempels betrat, konnte er die Atmosphäre des Entsetzens, der Angst und des Schreckens spüren, die sich im Tempel ausgebreitet hatte.
Der innere Bereich erstrahlte hell im Licht von Flammen, die in steinernen Laternen brannten, und dem Schein von Fackeln, die im Boden des riesigen Innenhofs steckten. Die eindrucksvolle, gewaltige Architektur – die Buddha-Halle, die fünfstöckige Pagode, der Holzturm mit der Tempelglocke und das achteckige Gebäude, in denen die Sutren, die heiligen Schriften aufbewahrt wurden – mit den wogenden Rieddächern, die von komplizierten Stützbalken-Konstruktionen getragen wurden, ließ die Mönche zwergenhaft erscheinen. Über die Mauer hinweg, auf den umliegenden Hügeln, konnte Sano die Dächer weiterer Gebäude sehen, die zur Tempelanlage gehörten: die Unterkunft des Abts, die Schlaf- und Wohngebäude der Mönche, Novizen und Diener, den Speisesaal und die Grabmale verstorbener Shōgune. Ohne den belebenden Anblick von Pilgern und geschäftigen Mönchen und Dienern, sah der Tempel zu dieser nächtlichen Stunde wie eine riesige Bühnenkulisse aus, auf der Komparsen schweigend und bewegungslos darauf warteten, daß die Hauptdarsteller erschienen.
»Hier entlang.« Der Abt führte Sano und Hirata um die Haupthalle herum. Vor der Hintertür standen sieben Mönche in einem Halbkreis; sie wachten über irgend etwas, das sich zwischen ihnen und der Tür befand. »Aus Achtung vor unserem Bruder haben wir sein abgetrenntes Haupt ins Innere des Klosters geholt und es neben den Körper gelegt. Der Mörder hatte den Kopf vor dem Haupttor aufgestellt, müßt Ihr wissen. Ansonsten ist alles noch so, wie wir es vorgefunden haben.« Auf einen Befehl des Abts folgten die Mönche ihm hinaus auf den Hof, so daß Sano und Hirata sich ungestört ihrer Aufgabe zuwenden konnten.
Sogar die früheren Greueltaten des bundori- Mörders hatten Sano nicht auf den ersten Anblick vorbereiten können, der sich ihm bot, als er nun die Überreste des getöteten Mönchs betrachtete. Vor Entsetzen zog er scharf die Luft zwischen den zusammengepreßten Zähnen ein. Er hörte, wie Hirata aufstöhnte.
Das Blut des Toten bedeckte den weißen Kies wie ein greller, scharlachroter Fleck. In dessen Mitte lag die kopflose Leiche des Mönchs auf dem Rücken. Schwerthiebe hatten den Körper verunstaltet. Der zerfetzte Stoff seines
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