Die Rache des Samurai
ehrwürdiger Abt.«
Der Abt nickte. »Ihr findet mich im Schreibsaal, wenn Ihr mich braucht.« Der vielsagende Blick, mit dem er Sano bedachte, bevor er ging, ließ deutlich erkennen, daß er ein unbeaufsichtigtes Gespräch mit dem Novizen nur deshalb duldete, weil ihm Sanos verschleierte Drohung noch in den Ohren klang.
»In Ordnung, er ist fort«, sagte Hirata zum Novizen. »Jetzt erzähl dem sōsakan-sama , was du gesehen hast.«
Kenji schluckte. Sein Lippen bebten. Sano kauerte sich nieder, so daß seine Augen sich auf gleicher Höhe mit denen Kenjis befanden, und bedachte den Jungen mit einem aufmunternden Lächeln. »Hab keine Angst« sagte er.
Hiratas Methode, den Jungen zum Sprechen zu bewegen, war um einiges derber. Er zwinkerte Sano zu; dann packte er eines der Ohren Kenjis, die wie die Henkel eines Kruges aus seinem kahlen Schädel ragten, und zupfte daran. »Nun komm schon, Kenji. Er wird dir nicht weh tun.«
Der Junge machte einen etwas ruhigeren, doch immer noch wachsamen Eindruck. Dann murmelte er mit hastiger Stimme: »Gestern war ich zum Betteln in der Stadt.« Wie viele andere Novizen und junge Mönche, hatte Kenji Almosen für den Tempel gesammelt. »Ich bin zu lange geblieben; denn als ich mich auf den Heimweg machte, war es bereits dunkel. Als ich in den Tempel kam, schliefen die anderen schon. Da bin ich durchs Fenster in den Schlafsaal geklettert. Die Mönche hatten nicht bemerkt, daß ich fort war, denn die anderen Novizen hatten meine Schlafpritsche so hergerichtet, daß es aussah, als würde ich darin liegen. Ich wollte nicht zu spät kommen, ehrlich. Bitte, Herr, erzählt dem Abt nichts davon, ja?« Verlegen wrang er die Hände und blickte Sano mit einen flehenden Ausdruck in die Augen an.
»Es bleibt unser Geheimnis«, sagte Sano ernst.
»Oh, danke, Herr!« Kenjis strahlendes Lächeln verwandelte ihn vom Abbild tiefsten Jammers in ein glückliches, lebhaftes Kind. »Wißt Ihr, Herr, ich bin deshalb zu spät gekommen, weil ich stehengeblieben bin, um mir in Nihonbashi einen Jongleur anzuschauen. So etwas hab’ ich noch nie gesehen! Er hat mit Messern jongliert, und mit brennenden Fackeln, und lebenden Mäusen, und …«
» Darüber möchte der sōsakan-sama nichts hören!« unterbrach Hirata den Jungen. »Erzähl ihm, was du auf der Straße gesehen hast, die von Edo zum Tempel führt.«
Sano wartete gespannt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hatte er endlich seinen ersten Mordzeugen vor sich? »Was hast du gesehen, Kenji?«
»Eine Sänfte«, sagte der Novize. »Vier starke Männer haben sie getragen. Sie sind mir aufgefallen, weil sonst alle Pilger, die zum Tempel kommen, im Dunkeln wieder fort sind. Ich habe noch nie einen Pilger gesehen, wenn ich so spät unterwegs war …«
Kenji schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich war erst wenige Male zu lange fort, Herr! Ehrlich!« In einer reumütigen Geste faltete er die Hände, doch in seinen Augen lag Verschmitztheit.
»Hast du gesehen, wer in der Sänfte gesessen hat?« fragte Sano geduldig.
»Nein. Die Türen und Fenster waren zu.«
»Hast du die Gesichter der Sänftenträger gesehen?«
Kenji schüttelte den Kopf. »Es war dunkel, und sie hatten große Hüte auf. Außerdem bin ich gerannt, weil ich so schnell wie möglich in den Schlafsaal kommen wollte, bevor jemand bemerkte, daß ich gar nicht im Bett lag.«
Enttäuschung stieg in Sano auf. Plötzlich ruckte Kenjis gesenkter Kopf in die Höhe, und in seinen Augen leuchtete es auf. »Moment mal … jetzt fällt mir doch noch etwas ein. Der Mond schien auf die Sänfte, und da hab’ ich gesehen, daß ein großer Drache auf die Seite gemalt war!«
Diese Auskunft war nicht viel wert, aber sie war besser als gar keine: Vor allem Sänften reicher Privatleute – weniger die Sänften berufsmäßiger Träger – trugen oft kunstvolle Bemalungen. Falls der bundori -Mörder in der Sänfte zum Tempel und wieder fort gebracht worden war, wie Sano vermutete, brauchte er nur die etwa siebentausend Bürger Edos aufzusuchen, die wohlhabend genug waren, sich eine eigene Sänfte leisten zu können.
»Welche Farbe hatte der Drache?« fragte er, um die Zahl der in Frage kommenden Sänften ein wenig einzuengen.
Kenji zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Es war zu dunkel.«
»Würdest du den Drachen wiedererkennen, wenn du ihn noch einmal siehst?« erkundigte sich Hirata.
»Weiß ich auch nicht. Schon möglich.« Der Novize schauderte und schlug sich mit den Händen auf die Arme. »Kann
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