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Die Rache des schönen Geschlechts

Titel: Die Rache des schönen Geschlechts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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kam herein. »Fazio hat erzählt, dass du auf der Baustelle warst. Was hast du herausgefunden?«
    Montalbano stand auf. »Also, bis morgen«, sagte er. Und ging.
Kapitel 4
    Sechs tödliche Arbeitsunfälle innerhalb eines Monats allein in der Provinz Montelusa waren eine ganze Menge. Wie viele mochten es dann in ganz Italien sein? War das bekannt? Ja, gelegentlich zählte jemand sie, und dann erschien mit zerknirschtem Gesicht eine Fernsehjournalistin und erklärte Gott und der Welt, wie hoch doch diese Zahl sei, natürlich, aber sie bewege sich durchaus im europäischen Mittel. Und damit zu den Sportnachrichten. Das war's. Wie hoch war denn das europäische Mittel, dürfte man das erfahren? Nein, das sagten sie nicht. Denn diese Geschichte mit dem europäischen Mittel< war inzwischen nicht nur ein feines Alibi, sondern auch ein großer Trost. Die Arbeitslosigkeit um vier Prozent gestiegen? Kein Grund zur Sorge, sie lag ja nur leicht, eine Idee, über dem europäischen Mittel. Nicht so die Verkehrsunfälle, nein, die lagen unter dem europäischen Mittel, aber keine Bange, die Regierung wollte sich darum kümmern, und deshalb plante ein Minister eine Mindestgeschwindigkeit von hundertfünfzig Stundenkilometern, damit auch Italien mit den anderen Ländern dieses von den Banken gewollten schönen Europa mithalten konnte. Wie war man eigentlich auf die Bezeichnung Unfälle gekommen? Nein, Nicolo Zito hatte ganz richtig gesagt:
    Mordanschläge waren es, und als solche mussten sie angesehen werden. All das ging ihm durch den Kopf, während er die butterzarten Tintenfischchen aß, die Adelina zubereitet hatte, und allmählich verging ihm der Appetit, bis er ganz verschwunden war. Er stand auf, räumte den Tisch ab und trank einen Espresso, um den bitteren Geschmack im Mund loszuwerden. Dann legte er die Kassette von Nicolos Sekretärin ein, setzte sich hin und sah sie sich an. Der erste Tote war ein bedauernswerter Mann, der in eine Sickergrube gefallen war. Der zweite ein Vater von drei kleinen Kindern, der bei lebendigem Leibe verbrannt war. Im dritten Fall war ein Seil mit einem Eisenträger gerissen, und der Eisenträger hatte den Mann, der darunter stand, zerquetscht. Der vierte Tod war gewissermaßen weniger einfallsreich, nämlich der übliche banale Sturz vom Gerüst. Beim fünften war die Fantasie durchgeschlagen: Ein Bauarbeiter hatte einen Kollegen, den er nicht gesehen hatte, mit Beton übergossen. Wie hieß noch mal dieser Roman des italoamerikanischen Schriftstellers Pietro di Donato, in dem auch so ein Fall erzählt wird? Ach ja, Christus im Beton. Es gab auch einen guten Film nach diesem Buch. Der sechste und letzte war Pukas Tod. Beim Anblick dieses Blutbades hatte es ihm den Magen umgedreht. Er brauchte eine Pause. Montalbano trat auf die Veranda, es war ein wunderbarer Abend. Er lief auf den Strand hinunter und schlenderte ganz langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, am Wasser entlang. Eine gute halbe Stunde wanderte er, die salzige Luft munterte ihn allmählich auf. Dann kehrte er nach Hause zurück, schaltete den Fernseher ein und sah sich die Sequenz mit dem toten Puka immer wieder von vorn an. Aber auf dem Spaziergang musste er sich verkühlt haben, denn er spürte stechende Schmerzen in der verletzten Schulter. Wohl ein Dutzend Mal sah er sich die Bilder an, er ließ das Band vor- und zurücklaufen, stoppte, spulte, bis er nur noch Schatten vor den Augen sah. Da war nichts, was nicht stimmig gewesen wäre. Es sollte wie ein Unfall aussehen? Es sah aus wie ein Unfall. Er verglich die Sequenz über Puka mit der des anderen Bauarbeiters, Antonio Marchica, der ebenfalls vom Gerüst gefallen war. ja, etwas gab es schon, nämlich dass Pukas Körper, die Stellung seiner Beine und Arme, exakt aussah, wie man es erwartete, sodass es künstlich wirkte. Puka lag da, wie ein Regisseur es sich für Filmaufnahmen vorstellte. Marchicas Arme zum Beispiel sah man nicht, sie steckten beide unter dem Körper. Pukas rechter Arm dagegen lag in einem schönen Bogen über dem Kopf, und der linke mit etwas Abstand seitlich am Körper. Marchicas Gesicht sah man nicht, weil es in der Erde vergraben war, Puka lag im Profil da, und man sah einen großen Teil der Kopfwunde. Montalbano wäre nicht erstaunt gewesen, wenn eine Stimme »Ruhe! Wir drehen!« gerufen hätte. Aber er fragte sich: Wenn du nicht den anonymen Brief bekommen hättest und gewarnt gewesen wärst, hättest du dann auch dieses Gefühl von Inszenierung, von

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