Die Rache des schönen Geschlechts
die Aufgehende Sonne, oder was auch immer, ins Spiel gebracht wurde, erklärte Signora Clementina ihm, ihre Cousine wisse alles über sämtliche Herrschaftshäuser in der ganzen Welt. Signora Ciccina biss aber nicht an. »Soll ich etwa von so was reden, wenn wir unseren Commissario hier sitzen haben?«
Und ohne Atem zu schöpfen, fuhr sie fort: »Wie denken Sie über den Fall Notarbartolo?«
»Welcher Notarbartolo?«
»Sie scherzen wohl! Erinnern Sie sich etwa nicht an
Notarbartolo, den von der Banca di Sicilia?«
Das Verbrechen war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (oder war es Ende des neunzehnten?) geschehen, aber Signora Ciccina begann darüber zu reden, als läge es erst einen Tag zurück. »Ich weiß nämlich alles über alle Verbrechen, die seit der Vereinigung Italiens bis heute in Sizilien passiert sind, Commissario.«
Nach dem Exkurs über den Fall Notarbartolo ging es weiter mit dem Fall Mangiaracina (1912-14), der sich als so verzwickt und kompliziert erwies, dass der Mörder beim Espresso immer noch nicht entlarvt war. Da schaute Montalbano, der einen ernsthaften Schaden seines Trommelfells befürchtete, auf seine Uhr, stand auf, schützte plötzliche Eile vor, verabschiedete sich und dankte Signora Clementina. Ciccina Adorno brachte ihn an die Tür. »Eins noch, Signora«, sagte der Commissario, ohne zu bedenken, worauf er sich einließ. »Erinnern Sie sich an eine gewisse Maria Carmela Spagnolo?«
»Nein«, antwortete entschieden Signora Adorno, die doch über sämtliche Bluttaten auf der Insel Bescheid wusste.
Als er auf dem Felsen unterhalb des Leuchtturms saß, gab er sich einer Art Selbstanalyse hin. Er war von Ciccina Adornos negativer Antwort zweifellos enttäuscht. Hieß das, dass er doch Nachforschungen anstellen wollte? Ja oder nein? Wenn er sich doch ein für alle Mal entscheiden könnte! Ein Minimum an Initiative würde ausreichen. Zum Beispiel könnte er zu Avvocato Colajanni gehen und ihn, auch auf die Gefahr einer Schlägerei hin, nach Maria Carmela Spagnolo befragen. Denn es bestand kein Zweifel, dass der sie kannte, wenn er bei der Lektüre der Todesanzeige beim Friseur so reagiert hatte. Oder er könnte in die städtische Bibliothek gehen, den Jahrgang 1950 der größten Tageszeitung der Insel ausleihen und mit Engelsgeduld nachlesen, was in den ersten sechs Monaten des Jahres in Fela alles passiert war.
Oder Catarella beauftragen, per Computer zu recherchieren. Warum tat er es dann nicht? Mit ein bisschen gutem Willen konnte er in Erfahrung bringen, was es zu erfahren gab, und schon war die Sache erledigt. Hatte er vielleicht keine Lust, dem Thema lebensverlängernde Maßnahmen - das von Ärzten, Geistlichen, Moralaposteln, Fernsehmoderatoren so heiß diskutiert wurde - und dem Thema prozessverlängernde Maßnahmen - das von Juristen und Politikern so heiß diskutiert wurde - auch noch das Thema ermittlungsverlängernde Maßnahmen hinzuzufügen, das kein Mensch diskutieren würde? Oder verhielt er sich, und das schien ihm die richtige Antwort, lieber passiv? Nämlich wie ein Strand, an dem gelegentlich die Überbleibsel von Schiffbrüchen angeschwemmt wurden: Manches nimmt das Meer wieder mit, anderes bleibt liegen und versengt in der Sonne. Da wartete man doch am besten, bis die Wellen weitere Wrackteile ans Ufer spülten.
Um kurz nach eins war er gerade auf dem Weg ins Bett, als das Telefon klingelte. Das war bestimmt Livia. »Hallo, Liebling«, sagte er.
Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann explodierte ein ohrenbetäubendes Donnergetöse, als ginge die Welt unter. Als er den Hörer vom Ohr weghielt, begriff er, dass es sich um Gelächter handelte. Und so lachen konnte nur Ciccina Adorno, die nicht nur ein Schreihals, sondern auch ein Nachtlicht war.
»Tut mir Leid, Dottore, aber ich bin nicht Ihr Liebling. Dottore, Sie haben mich reingelegt!«
»Wieso denn, Signora?«
»Mit Maria Carmela Spagnolo. Sie haben nicht gesagt, dass sie nach ihrer Heirat Siracusa hieß, ihr Mann war Apotheker, und vor lauter Nachdenken konnte ich gar nicht einschlafen.«
»Kannten Sie sie?«
»Klar kannte ich sie! Sogar persönlich. Aber ich habe seit vielen Jahren nichts mehr von ihr gehört.«
»Sie ist vorgestern gestorben, hier in Vigata.«
»Ja, so was!«
»Könnten wir uns morgen Früh treffen, Signora?«
»Ich fahre um acht wieder nach Fela.«
»Wäre es vielleicht möglich.«
»Wenn Sie nicht zu müde sind, können Sie jetzt noch kommen.«
»Aber Signora
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