Die Rache des schönen Geschlechts
Doktor berührt den Toten. Er ist noch warm. Aber das muss an dem Holzofen liegen, den der Avvocato, bevor er abends zuvor in den Club gegangen war, noch selbst angeheizt hatte, weil er nicht frieren wollte, wenn er nachts nach Hause kam. Signora Cristina wird später aussagen, dass sie, eine Viertelstunde bevor man ihren sterbenden Mann brachte, nachgeschürt habe.
Die Beerdigung muss um ein paar Tage verschoben werden, um Stefano, dem in der Schweiz lebenden Bruder des Verstorbenen, die Teilnahme zu ermöglichen. Am Tag nach dem Tod des Avvocato sucht Agata Dottor Friscia auf, um sich genauer erklären zu lassen, was ihr die Mutter bezüglich der Medikamente gesagt hat, die sie ihrem Mann nicht mehr rechtzeitig habe geben können. Das führt dazu, dass Agata von zu Hause auszieht und Freunde um Unterschlupf bittet. Wie bitte, eine Tochter verlässt die Mutter ausgerechnet in der Stunde des Schmerzes, wenn sie ihr beistehen müsste? Ab da brodelt die Gerüchteküche in der Stadt, wo hinter vorgehaltener Hand sowieso schon Andeutungen, Anspielungen, viel sagende Bemerkungen geflüstert wurden.
Bei ihrer Heirat ist Cristina Ferlito zwanzig Jahre alt und bildschön; ihr Vater ist der Notar Calogero Cuffaro und damit in Fela und den Nachbargemeinden der einflussreichste Vertreter der regierenden Partei. Der Bischof empfängt ihn praktisch täglich. Ob öffentliche
Aufträge, Genehmigungen, Lizenzen, Zuschläge -Cuffaros Wille geschehe. Cristina lernt schnell, aus welchem Holz ihr zehn Jahre älterer Ehemann geschnitzt ist. Sie bekommen eine Tochter. Cristina gibt die brave Ehefrau, und niemand kann ihr etwas vorwerfen. Bis zum Februar 1948, als ihr Mann einen entfernten Neffen ins Haus bringt, den fünfundzwanzigjährigen Attilio, einen sehr gut aussehenden jungen Mann, dem er eine Stelle in Fela vermittelt hat. Attilio, der bis dahin bei seinen Eltern in Fiacca gelebt hat, bezieht ein Zimmer in der Villa, die der Avvocato und seine Frau bewohnen. Oft, behaupten böse Zungen, tröstet Attilio bereitwillig seine Tante, die sich bei ihm wegen der dauernden Seitensprünge ihres Mannes ausweint. Bei so viel tröstendem Zuspruch findet Signora Cristina es am bequemsten, sich im Bett trösten zu lassen. Doch die Frau verliebt sich in den jungen Mann, sie hängt wie eine Klette an ihm, ist furchtbar eifersüchtig und fängt an, ihm sogar vor Fremden Szenen zu machen. Der Avvocato bekommt anonyme Briefe, aber die lassen ihn ziemlich kalt, eigentlich ist er ganz froh, dass seine Frau nicht mehr ihm, sondern dem Neffen auf den Wecker geht. Teils weil er die Geliebte satt hat, teils weil er dem Onkel, dem er schließlich seine Stelle zu verdanken hat, nicht länger Unrecht tun will, zieht Attilio im Oktober des folgenden Jahres in eine Pension. Cristina dreht durch, sie isst nicht mehr, sie schläft nicht mehr und schickt ihrem Geliebten mittels des Dienstmädchens Maria endlos lange Briefe. In einigen äußert sie, was Attilio nicht ernst nimmt, die Absicht, ihren Mann zu töten, um wieder frei zu sein und mit ihm leben zu können.
Bei der Beerdigung bekommt die ganze Stadt mit, dass Cristina gemieden wird - von der Tochter, vom Schwager Stefano, der aus der Schweiz angereist ist, und von der Schwiegermutter, die ihre Schwiegertochter in der Kirche, als sie vor dem Sarg stehen, unverblümt des Mordes an ihrem Sohn bezichtigt. Da tröstet Cristinas Vater, Notar Calogero Cuffaro, die Ärmste und gibt allen zu verstehen, sie sei halb verrückt vor Schmerz. Doch noch am selben Abend erklärt Stefano, der Schweizer, im Club Patria, er werde bei der zuständigen Stelle die Obduktion seines Bruders beantragen, und zieht sich mit Rechtsanwalt Russomanno zurück, der mit Notar Cuffaro die politische Überzeugung teilt, aber Chef des gegnerischen Flügels ist. Die eindringliche, sehr konzentrierte Unterredung in einem Hinterzimmer des Clubs dauert drei Stunden. Lang genug, dass zwei Unbekannte Stefano auf dem Nachhauseweg eine Tracht Prügel verpassen und ihn auffordern:
»Schweizer, hau ab in die Schweiz!«
Auf Bitte von Notar Cuffaro, der eine >angemessene Erklärung< verlangt, erscheint Stefano Ferlito in Begleitung von Avvocato Russomanno trotz eines gequetschten Auges und eines lahmen Beines im Haus des Verstorbenen. Keine Spur von Cristina, der Witwe, dafür ist außer dem Notar auch der angesehene Avvocato Sestilio Nicolosi da, der König der Anwälte. Dem Geschrei und Gezänk, das die Anwälte Russomanno und Nicolosi
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