Die Rache. Thriller.
grauen Spätnachmittagshimmel. Ein Windstoß wehte die letzten trockenen Blätter über die Wiese, und einen Augenblick wirkten sie, wie sie so hüpften und hin und her gewirbelt wurden, weil sie dem Befehl des Windes folgten, wie lebendige Wesen.
Megan berührte mit der Handfläche die Fensterscheiben und spürte die Kälte durch das Glas.
Als ihre Mutter starb, war das Wetter warm gewesen.
Die sanfte Brise des Indian Summer hatte die Blätter in täuschender Wärme gewiegt. Sie fragte sich, ob ihre Mutter gegen den Tod angekämpft oder ihn hingenommen hatte mit demselben ruhigen Gleichmut, mit dem sie den meisten Dingen des Lebens begegnet war. Sie war sehr plötzlich gestorben. Eines Morgens, während sie auf der Veranda im Schaukelstuhl saß, ein Glas in der Hand, hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Der Postbote hatte sie gefunden und den Notarzt alarmiert, aber es war zu spät.
Er war ein freundlicher junger Mann mit Bart und hatte immer ein paar nette Worte für Tommy übrig. Er kam vorbei und erzählte, daß die Großmutter, als er sie fand, gelächelt hätte. Zuerst hätte er gedacht, sie schliefe, dann aber hätte er gesehen, daß ihr das Glas Limonade herun-tergefallen war und ihre Arme so schlaff herabhingen. Da hätte er gewußt, daß etwas nicht stimmte.
Hätte ich ihr bloß Lebewohl sagen können, bevor sie sich so einfach davonstahl. Aber das war nun mal ihre Art: immer ruhig und immer konsequent.
Wenn sie doch bloß jetzt hier wäre, dachte Megan plötzlich. Sie wüßte, was zu tun ist. Sie würde nicht dauernd heulen und die Hände ringen, sondern Ideen entwickeln, einen Plan entwerfen. Sie würde ihre Gefühle beherrschen und würde sich die nächsten Schritte überlegen, anstatt tatenlos herumzusitzen und auf das nächste Unglück zu warten so wie ich. Sie würde alles tun, um Tommys und Vaters Leben zu retten.
Während all der Jahre an der Seite eines Strafrichters hatte sie großes Vertrauen in die eigenen Kräfte gewonnen. Ihr Mann war ein Kämpfertyp - Football-Spieler, Jurist, Angehöriger des Marine-Corps. Nie hatte er sich zeit seines Lebens in Auseinandersetzungen beirren lassen. Er ging das Leben direkt an, so wie er in seiner Militärzeit feindliche Strände erobert hatte. Fast draufgängerisch warf er sich nach vorn, suchte immer den schnellsten Weg zum Ziel.
Mutter war viel diplomatischer gewesen. Sie achtete auf das Drumherum, auf die kleinen Nebeneffekte ihrer Handlungen und wog alles gegeneinander ab. Sie ging behutsam durch die Minenfelder des Lebens, setzte ihre Füße behutsam, so daß die Gefahren des Lebens sie gar nicht bemerkten. Wie blind war ich doch früher, zu glauben, sie hätte zu viel aufgegeben, als sie ihr Jurastudium abbrach, um ihrem Mann zur Seite zu stehen.
Megan wandte sich vom Fenster ab und ging zu der Wand, an der die Familienfotos hingen. Dort war auch das Bild von Tommy in seinem zerbrochenen Rahmen.
Duncan hatte sich daran den Finger zerschnitten und überlegt, ob er das Bild wieder aufhängen sollte oder nicht. Schließlich hatte er alle lockeren Scherben von dem Foto entfernt und es an seinen alten Platz gehängt. Megan war sehr erleichtert, denn der Gedanke, das Bild von Tommy, ob beschädigt oder nicht, würde an der gewohnten Stelle fehlen - gleich neben den Zwillingen und ein wenig oberhalb von dem Bild der ganzen Familie -, war ihr unerträglich. Jetzt sah sie von einem Bild zum anderen, bis ihr Blick auf einem Foto ihrer Eltern haften blieb. Es war ein paar Jahre vor dem Tod ihrer Mutter aufgenommen. Ihr Haar war damals schon silberweiß, aber ihre Augen waren wach und voller Leben.
Ich werde versuchen, so zu werden wie du, dachte Megan.
Sie blickte in die Augen auf dem Foto und dachte: Ich weiß, was du jetzt tun würdest.
Und was wäre das?
Du würdest um dein Kind kämpfen.
Natürlich würde ich das. Das ist doch unsere Aufgabe als Frauen.
Wir haben noch viele andere Aufgaben.
Natürlich, mein Kind. Wir können Anwältin, Ärztin, Maklerin und sonst was sein. Aber letzten Endes sind wir für unsere Kinder da. Vielleicht kommt dir das dumm und veraltet vor, aber wahr ist es. Wir geben ihnen das Leben, und dafür müssen wir sie beschützen.
Aber Duncan …
Megan, ich weiß, du bist sehr progressiv. Aber er ist ein Mann und weiß einfach nicht Bescheid …
Was weiß er nicht?
Daß die Schmerzen der Geburt nur der Anfang sind und daß darauf noch viele andere folgen.
Das weiß ich doch.
Dann weißt du das andere
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