Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
gnadenlos zu sein. Es ist schon komisch; alle Welt vermutete die
Ursache dieses Getriebenseins immer in Lance selbst, meiner Meinung nach kam
sie jedoch eher von außen – aus seiner Angst heraus, jemand könnte
schlauer, zäher und strategisch besser sein als er. Ich nannte es bei mir die
Goldene Lance-Regel: Was immer du tust, die beschissene
Konkurrenz tut mehr.
Aus dieser Logik heraus arbeitete Lance mit dem anderen unsichtbaren
Teammitglied zusammen: Dr. Michele Ferrari. Ferrari war ein italienischer
Sportarzt, 45 Jahre alt und mit der Reputation behaftet, derart genial und
innovativ zu sein, dass er den Radsport quasi im Alleingang komplett
umgekrempelt habe. Er hatte für die besten Fahrer und Teams gearbeitet, er
verlangte die höchsten Honorare, und er gab sich so geheimnisvoll, dass er im
Peloton nur »der Mythos« hieß.
Ich begegnete Ferrari zum ersten Mal im April 1999, auf einem
Rastplatz neben der Autobahn zwischen Monaco und Genua. Ferrari entpuppte sich
als dünner, bebrillter, vogelartiger Mensch, der ein ganz normales kleines
Wohnmobil fuhr. Das war zuerst eine kleine Enttäuschung. Bei seiner Reputation
(ganz zu schweigen von seinem Namen) hätte er ja eigentlich in einem schicken
italienischen Sportwagen auftauchen müssen. Erst mit der Zeit wurde mir klar,
wie brillant die Idee mit dem Wohnmobil war: die perfekte Tarnung.
Ferrari glich keinem anderen Arzt, den ich vorher oder nachher
kennengelernt habe. Pedro legte viel Wert auf die menschliche Seite; Ferrari
dagegen betrachtete einen wie eine Rechenaufgabe, die es zu lösen galt. Er
hatte seine eigene Waage und spezielle Messschieber dabei, um die Dicke des
Unterhautfettes festzustellen. Außerdem eine Hämatokrit-Zentrifuge, Spritzen
und einen Taschenrechner. Aus dunklen Augen sah er mich durch seine übertrieben
große Achtzigerjahre-Brille an, und ich konnte beinahe sehen, wie die Zahlen in
seinem Gehirn herumwirbelten. Anders als Pedro war es Ferrari völlig egal, wie
es einem ging oder was man gerade durchmachte. Er interessierte sich
ausschließlich für Körpergewicht, Fettanteil, Wattzahl (das Maß der Kraft – also im Grunde, wie viel Power man auf die Pedale bringt) und Hämatokritwert.
Ich hoffte, ihn mit meiner guten Form zu beeindrucken; schließlich würden wir
in sechs Tagen die 257 Kilometer von Lüttich-Bastogne-Lüttich angehen, einen
der härtesten Tests vor der Tour. Aber als Ferrari mich untersuchte, schüttelte
er enttäuscht den Kopf.
»Ahhh, Tyler, du bist zu fett.«
»Ahhh, Tyler, dein Hämatokritwert ist nur 40.«
»Ahhh, Tyler, du hast nicht genug Kraft.«
Rede du nur, dachte ich. Dann aber sagte er:
»Tyler, du wirst LBL nicht schaffen.«
Und ob ich es schaffe, dachte ich.
Ferraris Selbstgewissheit ärgerte mich. Ich war schließlich nicht nur
irgendeine Gleichung. Wie konnte er wissen, was ich zuwege brachte? Wie sich
herausstellte, lag er dann auch wirklich falsch. Ich kam in Lüttich nicht nur
ins Ziel, sondern sogar auf den 23. Platz, meine bis jetzt beste Platzierung.
Aber ich dachte das ganze Rennen über an Ferrari.
Lance hingegen fand Ferrari toll. Ferrari passte zu seiner Vorliebe
für Präzision, Zahlen und Gewissheit. Ich hatte den Eindruck, Lance’ Verhältnis
zu Ferrari glich meinem zu Pedro: völliges Vertrauen. Es war klar, dass Ferrari
Lance gesagt hatte, wenn er bestimmte Werte erreiche, habe er eine Chance auf
den Tour-Sieg. Diese Vorstellung hatte Lance förmlich elektrisiert und gab ihm
exakt das Ziel vor, das er zur Motivation brauchte. In den Monaten vor der Tour
trainierten wir so hart wie noch nie. Lance konzentrierte sich ganz auf
Ferraris Versprechen: Bring du die Werte, der Rest kommt von alleine. [2]
Es war ziemlich klar, wie wichtig Ferrari für Lance war, vor allem,
weil Lance die ganze Zeit über ihn sprach, besonders während des Trainings.
Zehn Leute konnten ihm zehnmal denselben Ratschlag geben, ohne dass er ihn befolgt
hätte; gab Michele ihn ein elftes Mal, wurde er zum Evangelium. Für mich war
klar: Lance hielt so große Stücke auf Ferrari, dass die beiden eine Art
Exklusivität miteinander vereinbart hatten; Ferrari würde also keine anderen
Fahrer mit Ambitionen auf einen Tour-Sieg trainieren. Kevin und ich lästerten
oft, Lance spreche inzwischen öfter von Michele als von Kik.
Trotzdem versuchte Lance seine Beziehung zu Ferrari vor dem Rest des
Teams geheim zu halten – wenn auch nicht immer erfolgreich.
JONATHAN VAUGHTERS : Einmal, während
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