Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
noch leicht
weg und wurde dann vom Seitenspiegel gestreift. Er stürzte, blieb aber
unverletzt. Ich frage mich manchmal, was geschehen wäre, wenn George nicht
aufgepasst und keinen Warnruf ausgestoßen hätte.
Lance gewann den Prolog mit Bravour. Sieben Sekunden vor Zülle! Ich
glaube, er selbst war hinterher nicht weniger fassungslos als alle anderen. Er
fuhr über die Ziellinie und wusste gar nicht, was er nun tun sollte. Der Erste,
den er umarmte, war das Teufelchen, Dr. del Moral. In den Interviews, die er
danach geben musste, wirkte Lance auf charmante Weise unbeholfen und um Worte
verlegen. Er sagte immer dasselbe – wie toll es für sein Team, für die
Betreuer, für alle überhaupt sei. Dieser Sieg fühlte sich irgendwie nicht echt
an, ein Sieg auf Zeit. Wie ein Irrtum, der sicher bald korrigiert werden würde.
Zwei Tage später geschah das genaue Gegenteil. Die zweite Etappe
führte durch die Bretagne und unter anderem auch über die Passage du Gois, eine
schmale Dammstraße zwischen der Insel Noirmoutier und dem Festland, die
überhaupt nur bei Ebbe befahrbar ist. Die Tourveranstalter lieben spektakuläre
Bilder, deswegen mussten wir jetzt bei etwa Kilometer 80 wie der Teufel über
diesen schmalen, nassen und rutschigen Damm rasen. Lance und George hatten sich
vorausschauenderweise nach vorne durchgekämpft; der Rest von uns versuchte sich
ihnen anzuschließen, falls es zu einem Sturz kam. Es kam, wie es kommen musste:
Gleich am Anfang dieser verdammten Fahrt über den Schlick rutschte jemand in
der Mitte des Feldes weg. Die folgende Massenkarambolage wirbelte Dutzende
Fahrer durch die Luft, blockierte den Weg und kostete Jonathan Vaughters die
weitere Teilnahme an der Tour. Die meisten Favoriten – unter ihnen Zülle, Belli
und Gotti – saßen hinter dem Massensturz fest. In wilder Panik sprangen sie
wieder auf die Räder und versuchten die Spitze einzuholen, doch dieser Zug war
abgefahren.
Mit einem Mal hatte Lance jetzt einen enormen Vorsprung von sechs
Minuten auf seine Hauptrivalen. Es hieß allgemein, da habe er Glück gehabt;
aber wir, die wir dabei gewesen waren, und vor allem Lance selbst sahen es
nicht so. Jeder wusste, dass die Dammstraße rutschig sein würde. Stürze waren
da absehbar. Jeder hatte die Chance gehabt, beizeiten in die Spitze
vorzufahren. Es war so wie immer: Eine vermeintliche Unfairness trug dazu bei,
die Tour fair zu machen, weil eben jeder mit ihr zu kämpfen hatte. Entweder man
schaffte es – oder eben nicht. Punkt.
Aber die Tour war ja noch lange nicht vorbei. Allen war klar, das
achte und das neunte Teilstück würden die Schlüsseletappen sein: ein 56
Kilometer langes Zeitfahren in Metz, gefolgt von einem Ruhetag, und dann die
Königsetappe – eine brutale Folge von drei Anstiegen: zuerst hoch zum
Télégraphe, weiter über den Galibier und schließlich hinauf zum Ziel im
italienischen Skiort Sestriere. Während wir uns diesem Showdown näherten,
peitschten die Medien eine Woche lang die Emotionen hoch – mit den stets
gleichen dicken Überschriften: War das Peloton wirklich sauber? Würde Lance,
der auf den europäischen Monster-Bergetappen bislang nie brilliert hatte (bei
seinen vier Versuchen hatte er die Tour nur einmal beendet, als
Sechsunddreißigster), seinen Konkurrenten auch in der Kletterdisziplin
widerstehen können?
Ein paar Tage zuvor taten wir, was nötig war. Philippes geheimes
Telefon klingelte, er schlängelte sich durch die Menge und lieferte. Weil wir
das EPO nicht mit ins Hotel nehmen wollten, fanden
die Injektionen meistens im Wohnmobil statt. Das lief so ab: Nach dem
Zieleinlauf der Etappe gingen wir sofort ins Wohnmobil, uns waschen, etwas
trinken und uns umziehen. Die Spritzen warteten dort schon, manchmal in den
Turnschuhen versteckt, in den Sporttaschen.
Der Anblick der Spritze bereitete mir jedes Mal Herzklopfen. Man
wollte die Injektion am liebsten sofort hinter sich bringen – rein mit dem
Zeug und dann weg mit den Beweisen. Manchmal setzte del Moral die Spritzen,
manchmal wir selbst, je nachdem, was schneller ging. Und schnell waren
wir – das Ganze dauerte höchstens 30 Sekunden. Präzision war Nebensache:
Arm, Bauch, jede Stelle war recht. Wir gewöhnten uns an, die gebrauchten
Spritzen in einer leeren Coladose zu verstecken. Sie passten genau durch die
Öffnung – plonk, plonk, plonk –, man hörte die Nadeln
klappern. Diese Coladose behandelten wir dann sehr vorsichtig. Sie war die radioaktive Coladose, die
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