Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Hause völlig erschöpft und wie
bewusstlos ins Bett.
Ferrari reiste etwa einmal im Monat aus seinem Wohnort Ferrara an,
um uns zu testen. Seine Besuche glichen wissenschaftlichen Experimenten,
allerdings maß er nur nach, auf welche Art und Weise wir ihn enttäuschten. Er
wohnte immer bei Lance und Kristin, also fuhr ich morgens zur Untersuchung hin.
Er erwartete mich mit Waage, Fettkaliper und Blutzentrifuge. Die Zange kniff,
die Zentrifuge rotierte.
Und Ferrari schüttelte den Kopf.
»Aaah, Tyler, du bist zu fett.«
»Aaah, Tyler, dein Hämatokritwert ist zu niedrig.«
Ferrari testete uns gerne am Col de la Madone, einer steilen, zwölf
Kilometer langen Bergstrecke ganz in der Nähe von Nizza. Manchmal fuhren wir
mit allmählich gesteigerter Wattzahl eine einen Kilometer lange Teststrecke
bergauf. Ferrari bestimmte dann den Laktatwert in unserem Blut und übertrug die
Ergebnisse in ein Schaubild, sodass wir unsere anaerobe Schwelle erkennen
konnten (das zeigte uns, wie viel Energie wir dauerhaft mobilisieren konnten,
ohne zu übersäuern). Dann fuhren wir die gesamte Steigung mit maximalem Tempo
und jagten den Motor bis zum Anschlag hoch. Am Col de la Madone für Ferrari gut
zu fahren, fühlte sich fast so wichtig an wie ein Rennsieg.
Ich benutzte Ferrari als Informationsquelle. Die Fragen an ihn
schrieb ich gerne auf Papierservietten, damit ich sie nicht vergaß. Er erklärte
mir, warum Hämoglobin eine bessere Messgröße für das Energiepotenzial war als
der Hämatokritwert – weil sich die Sauerstoffbindungsfähigkeit des Blutes über
das Hämoglobin genauer messen ließ. Er beschrieb, wie eine höhere Trittfrequenz
die Muskeln weniger belastet und die Last von der Physis (den Muskelfasern) an
einen dafür geeigneteren Ort verlagert: ins Herz-Kreislauf-System und ins Blut.
Er erklärte mir, die beste Messgröße für die körperliche Leistungsfähigkeit sei
die Bestimmung der Wattzahl pro Kilogramm – die produzierte Energiemenge wird
dabei durch das Körpergewicht geteilt. Ferrari sagte, 6,7 Watt pro Kilogramm
seien die magische Zahl, denn so viel brauche man für einen Sieg bei der Tour.
Michele war besessen vom Gewicht – und damit meine ich: ganz und gar
besessen. Er redete mehr über das Körpergewicht als über Wattzahlen, mehr als
über den Hämatokritwert, der mit ein bisschen Edgar mühelos gesteigert werden
konnte. Der Grund für die Obsession: Abnehmen war die schwierigste, aber
effizienteste Methode zur Steigerung der alles entscheidenden Wattzahl pro
Kilogramm und somit auch für ein erfolgreiches Abschneiden bei der Tour.
Ferrari verbrachte mehr Zeit damit, uns mit Ernährungsfragen zu nerven, als er
jemals für unseren Hämatokritwert aufwendete. Ich erinnere mich daran, wie ich
mich mit Lance und Kevin darüber lustig machte: Die meisten Menschen hielten
Ferrari für einen übergeschnappten Chemiker, für uns war er eher ein wandelndes
Weight-Watchers-Programm.
Mit ihm zu essen war der reinste Alptraum. Sein Adlerauge
registrierte jeden Bissen, der in unserem Mund verschwand. Ein Keks oder ein
Stück Kuchen ließ seine Augenbraue nach oben wandern, hinzu kam eine
enttäuschte Miene. Er brachte Lance sogar dazu, eine Lebensmittelwaage zu
kaufen, mit der er sein Essen abwiegen konnte. So weit ging ich nie, aber unter
Ferraris Anleitung erprobte ich verschiedene Strategien. Ich trank zum Beispiel
literweise Mineralwasser mit Kohlensäure, um meinem Magen vorzutäuschen, er
wäre voll. Mein Körper, der belastet wurde wie noch nie zuvor, reagierte
verständnislos – er brauchte Nahrung, sofort! Aber bei diesem Thema hatte
Ferrari recht, wie bei so vielen Dingen: Mit abnehmendem Körpergewicht
verbesserten sich meine Leistungen. Sie wurden immer besser.
Das war ein anderer Sport als der, der mir vertraut war. Unsere
Gegner waren nicht die anderen Fahrer oder die Berge oder auch nur wir selbst.
Es waren die Zahlen, diese heiligen Zahlen, die er uns vor die Nase hielt und
denen er uns nachjagen ließ. Ferrari verwandelte unseren Sport – einen
romantischen Sport, bei dem ich früher einfach auf mein Fahrrad stieg und auf
einen guten Tag hoffte – in etwas ganz anderes, das eher einer Schachpartie
glich. Ich begriff, dass die Tour de France nicht von Gott oder den Genen,
sondern durch Anstrengung und Strategie entschieden wurde. Wer am härtesten
arbeitete und am schlausten plante, würde gewinnen.
Jetzt ist möglicherweise ein günstiger Zeitpunkt, um eine
wichtige Frage
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