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Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)

Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)

Titel: Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tyler Hamilton
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anzusprechen: War es zu dieser Zeit überhaupt noch möglich, ein
Profiradrennen zu gewinnen, ohne zu dopen? Konnte ein sauberer Fahrer es mit
denen aufnehmen, die mit Edgar fuhren?
    Die Antwort lautet: Das kommt aufs Rennen an. Bei kürzeren Rennen,
sogar bei einwöchigen Etappenrennen, ist die Antwort meiner Ansicht nach ein Ja
mit Vorbehalten. Ich habe kleinere viertägige Rennen mit paniagua und einem
Hämatokritwert von 42 gewonnen. Ich habe Zeitfahren unter ähnlichen
Voraussetzungen gewonnen und von anderen Fahrern gehört, die so etwas auch
geschafft haben.
    Aber sobald eine Renndauer von einer Woche überschritten wird, wird
es sauberen Fahrern ganz schnell unmöglich, mit Konkurrenten mitzuhalten, die
Edgar einnehmen. Edgar verschafft einen zu großen Vorteil. Je länger die
Rundfahrt dauert, desto größer wird dieser Vorteil, daher die immense Wirkung
von Edgar bei der Tour de France. Der Grund dafür ist der Verschleiß – im
physiologischen Sinn. Große Anstrengungen – Siege bei Alpenetappen oder beim
Zeitfahren – kosten zu viel Energie. Sie lassen den Körper abbauen, der
Hämatokritwert sinkt, der Testosteronwert stürzt ab. Ohne Edgar und die roten
Pillen summiert sich dieser Verschleiß. Mit Edgar und den roten Pillen hingegen
kann man sich erholen, neu austarieren und auf demselben Niveau weiterfahren. Doping
ist also weniger ein magischer Energieschub, sondern eher eine Möglichkeit, der
Abnahme der Leistungsfähigkeit entgegenzuwirken.
    In jenem Frühjahr in Nizza trainierten wir härter und länger, als
ich mir jemals hätte vorstellen können. Es funktionierte. Hier folgen ein paar
Einträge aus dem Trainingstagebuch im Jahr 2000. (Dabei ist zu beachten: Am 30.   März hatte ich bereits seit fast sechs Wochen Rennen gefahren. Außerdem schrieb
ich » RP « neben den Hämatokritwert, damit eventuelle
Leser dachten, das sei mein Ruhepuls. Schlau, nicht wahr?)
    30. MÄRZ
Gewicht: 63,5   kg
Körperfettanteil: 5,9 Prozent
Durchschnittliche Wattzahl: 371
Watt pro Kilo: 5,84
HR [Hämatokrit]: 43
Hämoglobin: 14,1
Maximalpuls: 177
Madone-Zeit: 36   :   03
    31. MAI
Gewicht: 60,8   kg
Körperfettanteil: 3,8 Prozent
Durchschnittliche Wattzahl: 392
Watt pro Kilo: 6,45
HR [Hämatokrit]: 50
Hämoglobin: 16,4
Maximalpuls: 191
Madone-Zeit: 32   :   32
    Innerhalb von sechzig Tagen gelangte ich von
Durchschnittswerten im Feld bis in die unmittelbare Reichweite von Ferraris
magischer Zahl für den Tour-Sieg – eine Verbesserung um zehn Prozent in einer
Sportart, in der ein halbes Prozent ein großes Rennen entscheiden kann. Das
Timing war perfekt für mich, weil die Dauphiné Libéré unmittelbar bevorstand,
jenes einwöchige Rennen in den französischen Alpen, das den Tour-Teilnehmern
traditionell als Aufwärmübung diente. Ich wusste, dass Lance hier gewinnen
wollte, dachte aber, dass ich dabei auch selbst gut abschneiden und meine Rolle
als sein wichtigster Helfer festigen könnte.
    Etwa zu diesem Zeitpunkt spürte ich eine Veränderung in meinem
Verhältnis zu Lance. Er kannte meine Leistungswerte. Er sah, wo ich stand und
wie rasch ich mich verbesserte. Mir fiel auf, dass Lance sein Vorderrad ein
kleines Stückchen vor meines schob, wenn wir Seite an Seite trainierten. Ich
bin allerdings stur und reagierte entsprechend. Das entwickelte sich zu einem
Verhaltensmuster: Lance schob sich 15   Zentimeter nach vorn, und ich reagierte,
indem ich mein Vorderrad einen Zentimeter hinter seinem platzierte. Er ging
abermals 15   Zentimeter nach vorn, und ich rückte nach – Abstand: ein
Zentimeter. Ich blieb immer einen Zentimeter hinter ihm, um ihn das Tempo
kontrollieren zu lassen. Dieser eine Zentimeter, der uns trennte, bekam eine
große Bedeutung. Es war wie eine Unterhaltung, und Lance stellte die Fragen.
    Wie fühlt sich das an?
    Bin noch da.
    Und das?
    Immer noch da.
    Okay, und das?
    Immer noch da, Mann.
    Damals war ich stolz darauf – stolz, beweisen zu können, was für ein
starker erster Helfer ich war. Erst später begriff ich, dass diese Situation
den Keim zum Fiasko in sich trug.
    Der andere Teil meiner Lehrzeit war mit dem häuslichen
Leben verbunden. Haven ist ein Organisationstalent, und sie stürzte sich mit
aller Energie in unser neues Leben in Nizza. Sie nahm Französischunterricht.
Sie kaufte ein, erledigte Bankgeschäfte, Papierkram aller Art, alles, was
anfiel. Sie entdeckte einen tollen Obst- und Gemüsemarkt, den sie täglich
plünderte. Sie schnitt meinen Salat in kleine

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