Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
klarsichtig
und nicht aus der Ruhe zu bringen. Kevin war der Temperamentsbolzen: mit
übersprudelndem Humor, albernen Witzen und einem stetig wachsenden Repertoire
von persönlichen Eindrücken (auf Zuruf gab er Michele Ferrari: Aaaah, Tyler, du bist zu fett!) . Ich war der Kumpel und
Helfer, der Stille mit dem trockenen Humor, der alles sah und nicht viel
redete.
Lance war der große Boss, beflügelt von diesem neuen Leben und vom
Erfolg. Er war schon früher sehr entschieden aufgetreten, aber jetzt schien
sich diese Entschiedenheit noch verdoppelt zu haben. Er kümmerte sich um alles.
An einem Tag waren Technologie-Aktien die beste beschissene
Investition auf dem Markt; am nächsten Tag war es irgendeine Bäckerei in
der Normandie, die das beste beschissene Brot hatte, das du je gegessen hast; beim nächsten Mal ging es um
irgendeine Band, die beste beschissene Band, die du je
gehört hast . Und meistens hatte er auch noch recht.
Lance hatte auch ein Auge auf die Konkurrenz. Er verbrachte viel
Zeit mit Gesprächen über Ullrich, Pantani, Zülle und die anderen. Lance wusste
eine Menge – wer mit welchem Arzt zusammenarbeitete, wer sich auf welches
Rennen vorbereitete, wer fünf Kilo Übergewicht hatte, wer vor der Scheidung
stand. Lance war eine Einmannzeitung: Ging man mit ihm zwei Stunden trainieren,
wusste man hinterher Bescheid über das gesamte Peloton.
Manchmal war er zu gesprächig. Ich erinnere mich, dass ich einmal
mit ihm und Kevin in einem Hafenrestaurant in Nizza saß, und Lance sprach über
eine neue Art von EPO , die seinen Informationen
zufolge einige spanische Fahrer verwendeten. Er sprach ziemlich laut und offen,
er verwendete keine Codewörter, und ich wurde nervös, hoffte, dass am nächsten
Tisch nicht jemand saß, der Englisch verstand. Ich war so beunruhigt, dass ich
tatsächlich so etwas sagte wie: »Hey, Mann, hier könnten die Wände Ohren
haben.« Aber ihm schien das nichts auszumachen, er plauderte munter weiter. Es
war wie mit seinem EPO -Depot im Kühlschrank.
Während wir anderen halb verrückt vor Angst waren, erwischt zu werden, benahm
sich Lance, als sei er unverwundbar. Vielleicht gab es ihm auch mehr
Sicherheit, so zu tun, als sei er unverwundbar.
Von Lance lernte ich viel, aber meine wahre Ausbildung fand alle
paar Wochen statt, wenn Michele Ferrari zu Besuch kam. Ferrari war unser
Trainer, unser Arzt, unser Gott. Er dachte sich gern Trainingseinheiten aus,
die wie Folterinstrumente wirkten: Sie brachten uns fast um, aber eben nicht
ganz. In späteren Jahren hörten wir oft, wie Lance in der Öffentlichkeit
erzählte, Chris Carmichael sei sein offizieller Coach – und Carmichael baute
auf dieser Beziehung ein beachtliches Unternehmen auf. Ich wusste, dass die
beiden befreundet waren. Die Wahrheit ist jedoch, dass Lance in all den Jahren,
in denen ich mit ihm trainierte, niemals Chris’ Namen erwähnte oder einen Rat,
den er von ihm bekommen hatte. Ferraris Namen nannte Lance dagegen mit fast
ärgerlicher Häufigkeit. Michele sagt, wir sollten dies tun.
Michele sagt, wir sollten das tun. [1]
Ich musste noch viel lernen. Bis dahin hatte ich trainiert wie die
meisten Radprofis der alten Schule – nach Gefühl. O ja, ich betrieb
Intervalltraining und zählte die Stunden, ging dabei aber nicht sehr
wissenschaftlich vor. Man kann das an meinen Trainingstagebüchern ablesen, in
denen an den meisten Tagen nur eine einzige Zahl steht: Wie viele Stunden ich
gefahren bin – je mehr, desto besser. Das hörte in dem Augenblick auf, als
ich nach Nizza kam. Lance und Ferrari zeigten mir, dass es mehr
Trainingsvariablen gab, als ich mir je hätte träumen lassen, und sie alle waren
wichtig: Wattzahlen, Trittfrequenzen, Intervalle, Herzfrequenz-Zonen, Joules,
Milchsäure und, natürlich, der Hämatokritwert. Jede Trainingsfahrt war eine
mathematische Aufgabe, eine präzise ausgearbeitete Reihe von Werten, die es zu
erreichen galt. Das hört sich einfach an, war aber in Wirklichkeit unglaublich
schwierig. Sechs Stunden lang radzufahren ist die eine Sache. Etwas ganz
anderes ist es, sechs Stunden lang radzufahren und dabei nach einem Programm
von Wattzahlen und Trittfrequenzen zu arbeiten, vor allem dann, wenn einen
diese Wattzahlen und Trittfrequenzen an den Rand der körperlichen
Leistungsfähigkeit bringen. Mithilfe stetig zugeführter Dosen von Edgar und den
roten Pillen trainierten wir, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können:
Tag für Tag fiel ich nach der Rückkehr nach
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