Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
hatten. Nach dem Zieleinlauf kam noch die
traditionelle Parade die Champs-Élysées hinunter zum Arc de Triomphe. Überall
enorme Menschenmengen, die amerikanische und texanische Flaggen schwenkten. Wir
stiegen von den Rädern und liefen in ungläubiger Glückseligkeit über die
Pflastersteine, umarmten unsere Frauen, unsere Familien und einander.
Champagnerkorken knallten, eine Million Blitzlichter zuckten, irgendwer in der
Menge spielte Tuba. Es war wie in einem Hollywood-Film.
Die Siegesfeier war genauso phantastisch. Thom Weisel mietete das
oberste Stockwerk des Musée d’Orsay, der weltberühmten Gemäldegalerie am Ufer
der Seine; ungefähr 200 Sponsoren, Familienmitglieder und Freunde waren eingeladen.
Weisel triumphierte, prostete jedem zu, den er traf, und erinnerte ihn daran,
dass wir gerade die beschissene Tour de France gewonnen hatten. Lance’ Agent
Bill Stapleton stand mit seinem Telefon auf dem Balkon und vereinbarte einen
Termin nach dem anderen – Letterman, Leno, Nike, die Today
Show und immer so weiter, das Display blinkte wie die Leuchtreklame am
Times Square. Irgendwann während der Party klingelte dann auch Lance’
Mobiltelefon. Er stand auf, ging hinaus und kam einige Minuten später zurück.
»Cool«, sagte er. »Das war eben Präsident Clinton.«
Es war an der Zeit, denjenigen zu danken, die all das ermöglicht
hatten. Lance stieg aufs Podium und erklärte: »Ich habe heute das maillot jaune auf die Champs-Élysées getragen, aber mein
eigener Anteil an diesem Erfolg ist vielleicht gerade einmal so groß wie der
Reißverschluss. Der ganze Rest – Brust und Rücken, Ärmel und Kragen sind der
des Teams, seiner Mitarbeiter und meiner Familie. Und das meine ich von ganzem
Herzen.«
In all dem Trubel schafften wir es, eine ruhige Ecke für eine kleine
private Zeremonie zu finden. Kevin und ich überreichten einem erschöpften, aber
glücklichen Motoman seine Rolex, die Belohnung dafür, dass er den Sieg möglich
gemacht hatte. Wir umarmten ihn, und er probierte die Uhr an. Sie passte
perfekt. [6]
6
2000: DIE SIEGMASCHINE
Du und Haven, ihr solltet nach Nizza umziehen.
Lance sagte das beiläufig, aber es fühlte sich wichtig an. Im Herbst
1999 wohnte ich immer noch in Girona, aber es war klar, dass sich der
Schwerpunkt des Teams nach Nizza verlagert hatte, in diese wunderschöne Stadt
im Herzen der französischen Riviera. Lance und Kristin lebten dort, ebenso
Kevin Livingston und seine jetzige Frau Becky sowie Frankie Andreu und seine
Frau Betsy. Michele Ferrari war nur eine halbe Auto-Tagesfahrt entfernt. Haven
hatte vor Kurzem bei Hill Holliday gekündigt, jetzt konnten wir in Europa
zusammenleben. In Nizza zu wohnen, das hörte sich mehr als perfekt an: Wir
würden alle zusammen sein, gemeinsam trainieren, arbeiten, leben und uns auf
die nächste Tour vorbereiten. Haven und ich zogen also im März 2000 in ein
kleines gelbes Haus am Ende einer mit Rosen überwachsenen Gasse in
Villefranche-sur-Mer, knapp zwei Kilometer von Lance und Kristin entfernt.
Außerdem hatten wir zum ersten Mal Geld: einen neuen Jahresvertrag über 450 000
Dollar (eine kräftige Steigerung von 300 000 Dollar im Vergleich zum letzten
Jahr) sowie einen Bonus von 100 000 Dollar, wenn ich mithalf, Lance einen
weiteren Tour-Sieg zu sichern.
Es fühlte sich an wie ein Umzug auf einen anderen Planeten: Im Hafen
dümpelten die Jachten der Milliardäre, am Ufer flanierten die älteren
französischen Ehepaare mit gewaltigen Sonnenbrillen und winzigen Hunden. Von
unserem neuen Wohnort aus hatten wir einen Blick auf Nellcôte, die Villa, in
der die Rolling Stones 1971 ihre LP Exile on Main Street aufgenommen hatten. Monaco war gleich
nebenan. Es war ein Ort, an dem man auf der Straße einer glamourösen Frau
begegnete, und eine Sekunde später dämmerte es einem: Mensch,
das war doch Tina Turner .
Kevin, Lance und ich. Wir fuhren meist zusammen, manchmal stieß auch
noch Frankie dazu. Meist trafen wir uns auf der Straße am Meer und machten uns
dann auf den Weg ins bergige Hinterland nördlich von Nizza. Ein Training dieser
Art ist in etwa so, als würde man mit Freunden zusammensitzen und gemeinsam
einen Film anschauen – in diesem Fall war der Film die französische Landschaft,
die an uns vorbeirauschte. Wie beim Filmeschauen verbrachten wir die meiste
Zeit damit, Unsinn zu reden, unsere Beobachtungen anzustellen und miteinander
herumzualbern.
Wir hatten alle unsere Rollen. Frankie war der Anker:
Weitere Kostenlose Bücher