Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Wir stiegen wieder auf unsere Räder und fuhren
schweigend nach Hause. In den folgenden Tagen erzählte Lance diese Geschichte
Frankie und Kevin, als ob das etwas Lustiges gewesen wäre – noch so eine
verrückte Sache, die in Frankreich passiert war. Ich versuchte mitzulachen,
konnte das aber nicht. Ich sah immer noch diesen Typen, der sich niederduckte
und dabei weinte und bettelte, während Lance auf ihn einschlug. Ich hatte mehr
gesehen, als ich sehen wollte.
Diese düstere Seite von Lance’ Persönlichkeit belastete uns, aber
für die Mannschaftsleistung insgesamt war sie förderlich. Unter seiner und
Johan Bruyneels Führung funktionierte Postal wie ein Schweizer Uhrwerk. Bessere
Hotels. Bessere Behandlung seitens der Rennveranstalter. Bessere Planung.
Bessere Ernährung. Bessere Sponsoren. Bessere Technik, Windkanal-Tests
inklusive. Wir lebten, als wären wir emsige, gut vernetzte Teile eines großen,
kühnen Unternehmens, wie Astronauten, die sich auf eine NASA -Mission
vorbereiteten. Dann war da noch die umfassendere, schlichtere Tatsache, dass
wir mit unseren Rädern Tag für Tag durch eine der schönsten Landschaften der
Welt fuhren; das Gefühl, mehr aus uns herauszuholen als je zuvor, wodurch wir
uns neue, kraftvolle Identitäten zulegten … Und dass wir dafür auch noch
bezahlt wurden! Auf unseren Fahrten sahen wir uns manchmal einfach nur staunend
an, als wollten wir sagen: Ist es zu glauben, wie verrückt das Ganze ist?
Als der Termin für die Dauphiné Libéré näher rückte, war
ich voll stiller Zuversicht. Ich war leichter und stärker als je zuvor. Beim
letzten Fitnesstest hatte Ferrari einen Laut von sich gegeben, den ich noch nie
von ihm gehört hatte – Ooooh, Tyler! So hört sich
Anerkennung an.
Ich wollte stark sein, vor allem am wichtigsten Tag der einwöchigen
Rundfahrt, bei der Schlüsseletappe auf den Mont Ventoux. In Frankreich gibt es
zahllose legendäre Anstiege, aber der Mont Ventoux ist vielleicht der
berühmteste von allen. Man nennt ihn auch den Riesen der Provence, und es ist
unangenehm genug, dass er ein Opfer gefordert hat: Tom Simpson, den britischen
Straßenweltmeister von 1965, der hier zwei Jahre später bei der Tour an einer
kombinierten Überdosis von Erschöpfung, Alkohol und Amphetaminen starb.
Auf dem ersten Teil des Ventoux-Anstiegs fühlte ich mich großartig.
Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass sich ein Radprofi eigentlich nicht
großartig fühlt, wenn er so etwas sagt. In Wirklichkeit fühlt man sich wie in
der Hölle – man leidet, das Herz hämmert, als wollte es aus der Brust springen,
die Beinmuskulatur brüllt, Schmerzsignale durchzucken den Körper, als wäre die
gesamte Weihnachtsbaumbeleuchtung auf Stroboskop geschaltet. Mit »großartig«
ist eigentlich gemeint: Man fühlt sich selbst zwar beschissen, weiß aber, dass
es den Jungs um einen herum noch viel beschissener geht. Und an feinen Anzeichen,
an verräterischen Signalen lässt sich ablesen, dass sie zuerst nachlassen
werden. Der eigene Schmerz fühlt sich in einer solchen Situation bedeutsam an.
Er kann sogar ein großartiges Gefühl sein.
Hier am Mont Ventoux, bei der Dauphiné, fühlte ich mich also
großartig. Lance fuhr neben mir im Gelben Trikot des Spitzenreiters und war in
einer guten Ausgangsposition für den Gesamtsieg. Zehn Kilometer vor dem
Etappenziel bildeten wir mit einer Handvoll weiterer Favoriten die
Spitzengruppe. Meine Aufgabe war es, auf Attacken zu reagieren – Ausreißer zu
stellen, sodass niemand allein wegkam. Sobald mir das gelang, sollte Lance
aufschließen, seinerseits attackieren und die Etappe für sich entscheiden. Es
war ein Plan wie aus dem Einführungskapitel des Handbuchs für Radprofis: die
klassische Doppelspitze.
Der erste Teil funktionierte gut: Ich folgte den Ausreißern und
wartete dann darauf, dass Lance die Lücke zufuhr.
Kein Lance zu sehen.
Ich hörte Johan über Funk, drängte auf Anweisungen. Die Zeit
verging.
Allmählich wurde ich nervös, ich sah, wie Alex Zülle und der
spanische Kletterspezialist Haimar Zubeldia zu mir aufschlossen; andere Fahrer
folgten ihnen. Aber wo war Lance?
Die Uhr lief weiter. Noch mehr Konkurrenten zogen nach, allmählich
wurde es voll in dieser Gruppe. Aber Lance war immer noch nicht zu sehen. Dann
hörte ich Johans Stimme.
»Lance schafft es nicht. Tyler, fahr los.«
Ich fragte bei Lance nach.
»Fahr los. Verdammt, fahr einfach.«
Ich attackierte, als wir an der Gedenkstätte für Tom Simpson
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