Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
vorbeikamen,
eineinhalb Kilometer vor der Wetterstation, die aussieht wie ein Leuchtturm und
den Berggipfel markiert. Ich ging weit bei dieser Attacke, vielleicht weiter
als jemals zuvor. Die Welt verengte sich zu einem hellen Gang. Ich spürte Zülle
und Zubeldia neben mir, dann spürte ich, wie sie zurückfielen. Ich spürte die
Zuschauer, spürte meine Beine, die in die Pedale traten, aber sie fühlten sich
gar nicht mehr wie meine Beine an. Ich fuhr mit dem letzten Rest der Kraft,
nahm die letzte Rechtskurve, die zur Ziellinie führte, und überquerte sie.
Chaos. Menschen, die nach mir greifen, mir ins Ohr brüllen, Reporter
drängen sich um mich.
Ich bin im Delirium.
Ich hatte am Mont Ventoux gewonnen.
Ein Postal-Betreuer schnappte mich, legte mir ein Handtuch um den
Hals und lenkte mich zum Mannschaftsbus hin. Im Bus war es so still. Ich setzte
mich, löste den Helmverschluss und ließ das Geschehen auf mich wirken. Es
fühlte sich surreal an.
Ich war stärker gewesen als alle anderen.
Jetzt war ich Mitfavorit auf den Gesamtsieg.
Die Tür ging auf. Lance kletterte mit grimmiger Miene in den Bus,
den Kopf gesenkt. Er saß drei Meter von mir entfernt, trocknete sich mit einem
Handtuch ab, sagte kein Wort. Ich sah, dass er sauer war. Die Stille wurde
ungemütlich.
Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür abermals – mit
sorgenvollem Gesichtsausdruck ging Johan direkt zu Lance. Er berührte ihn an
der Schulter, setzte sich neben ihn, sprach leise und beruhigend, wie eine
Krankenschwester oder ein Psychiater.
»Das war nicht von Bedeutung, Mann«, sagte Johan. »Vielleicht war
die Höhenlage schuld. Vielleicht hast du zu hart trainiert. Wir reden mit
Michele. Die Tour beginnt erst in drei Wochen. Keine Sorge, es ist noch viel
Zeit.«
Nach ein paar Minuten fragte Johan dann schließlich: »Und wer hat
gewonnen?«
Lance zeigte auf mich, ohne aufzusehen.
Johan wurde rot, tiefrot. Er kam herüber, umarmte mich ungeschickt,
gab mir die Hand, gratulierte. Ich glaube, es war ihm peinlich. Er wusste, was
für ein großartiger Sieg das war – und er hatte mich völlig ignoriert.
Jetzt machte er das gut.
Aber Lance blieb schlecht gelaunt. Beim Abendessen an jenem Tag, als
alle anderen auf meinen Sieg anstießen, suchte er kaum Blickkontakt. Es sah
ganz so aus, als habe er seine Reaktion nicht unter Kontrolle, wie bei einer
Allergie: Mein Rennerfolg – der gut für Postal war, also auch gut für ihn – trieb ihn die Wände hoch.
Bei der nächsten Etappe am Tag darauf gelang Lance und mir ein
später Ausreißversuch. Im ersten Moment war ich begeistert. Wenn wir das durchhielten,
bedeutete das für mich die Gesamtführung, und, was genauso wichtig war, wir
würden zugleich zeigen, dass Postal das stärkste Team im Peloton der Tour war.
Es fühlte sich jetzt nur so an, als versuchte Lance, mich abzuhängen. Er machte
bei den letzten Anstiegen der Etappe weiter Tempo und fuhr viel schneller, als
wir eigentlich mussten. Anschließend rauschte er die Abfahrten so schnell
hinunter, dass wir beide zu stürzen drohten. Ich musste ihn schließlich
anschreien, er solle doch langsamer fahren.
Wir fuhren gemeinsam über die Ziellinie. Nach jenem Tag trug ich das
Gelbe Trikot des Gesamtführenden, das gepunktete Trikot des besten Bergfahrers
und das weiße Trikot des Punktbesten. Mit dem Sieg bei der Dauphiné Libéré,
einer Rundfahrt, zu deren früheren Gewinnern Eddy Merckx, Bernard Hinault, Greg
LeMond und Miguel Indurain zählten, hatte ich mir mit einem Schlag einen Namen
gemacht. Ab sofort gehörte ich zu den möglichen Anwärtern auf den Tour-Sieg.
Aber abseits des oberflächlichen Geschehens dachte ich darüber nach, wie Lance
versucht hatte, mich auf diesen Anstiegen fertigzumachen. Es war dasselbe
Muster wie bei unseren Trainingsfahrten: Schaffst du das?
Das? Und das?
Am letzten Abend der Dauphiné Libéré kamen Lance und Johan auf mein
Hotelzimmer. Ich rechnete mit einem Gespräch über das Rennen, vielleicht auch
mit einem Plan für die bevorstehende Tour. Stattdessen eröffneten sie mir, dass
wir am kommenden Dienstag, zwei Tage nach Abschluss dieser Rundfahrt, nach
Valencia fliegen würden, um dort eine Bluttransfusion vornehmen zu lassen.
7
DIE NÄCHSTE EBENE
Als Radprofi entwickelt man im Lauf der Zeit die
Fähigkeit, ein Pokerface aufzusetzen. Ganz egal, wie extrem die eigene
Befindlichkeit gerade ist – wie nahe man selbst dem körperlichen Zusammenbruch
ist –, man tut alles, um dies zu
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