Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Obwohl er noch vor einer Sekunde den stinkenden Atem des Schattens im Nacken gespürt hatte und Bäche aus Blut über seine Füße geströmt waren, war der Kai nun leer. Er wirkte friedlich und verlassen – so, wie er ausgesehen hatte, als sie die Stadt vom Wellenbrecher aus zum ersten Mal erblickten.
»Nein«, flüsterte Hethor. »Ihr werdet mich nicht noch einmal mit Stille übertölpeln. Ihr werdet mir nicht in den Rücken fallen.«
Er hob einen fallen gelassenen Speer auf, dessen Schaft aus einem dunklen Holz gefertigt war, das in der Dämmerung fast schwarz aussah. Seine Bronzespitze glänzte noch immer. Als die letzten jungen Männer an ihm vorbeischwärmten, stach Hethor blind mit dem Speer zu, um das aufzuhalten, was ihnen folgte.
Einen Moment lang kam er sich dumm vor, seinen Instinkten zum Trotz. Dann schien sich die Luft wie Brühe beim Kochen zu verdicken. Er sah zwar keines der Schattenmonster, fühlte sie aber im Kribbeln seiner Haare und einer aufkeimenden Übelkeit. Seine Fähigkeit, das Universum als Zahnräder innerhalb von Zahnrädern wahrzunehmen, ließ ihn ein lautes Surren hören: Die Zahnräder drehten sich mit aberwitziger Geschwindigkeit und drohten die Räder der Wirklichkeit zu zerstören.
Hethor stach zu, und die Bronzespitze verschwand in der leeren Luft. Er riss den Speer zurück und sah, wie dickes schwarzes Blut aus einer unsichtbaren Wunde quoll. Er wechselte den Griff, stach erneut zu und traf wieder etwas. Es war, als zöge er ein Messer über einen Teppich. Das Monster blieb weiterhin unsichtbar, aber es war so breit wie der Kai, auf dem es stand.
Etwas so Großes konnte er unmöglich bekämpfen, aber er ließ es zumindest langsamer werden. Hethor blickte kurz über die Schulter zum Ankermast. Malgus’ Leiche bewegte sich in einer langsamen, gleichmäßigen Parodie seines tödlichen Sturzes nach oben. Die letzten Männer schoben den Toten von unten zum Luftschiff hinauf. Der Anblick erinnerte Hethor an pelzige Kakerlaken, die um ein großes Steinbeil wuselten.
Unwichtig, dachte er. Sie waren oben, sie waren in Sicherheit – so sicher man auf einem Luftschiff sein konnte.
Er drehte sich um und stieß erneut zu. Der Speer traf etwas, das ihm so nahe war, dass er es mit bloßer Hand hätte berühren können. Es wurde Zeit, dass er sich absetzte. Er stach noch einmal kräftig mit dem Speer zu, ließ ihn diesmal im unsichtbaren Monster stecken, drehte sich um und rannte zum Ankermast.
Sobald er dem Ungeheuer den Rücken zugedreht hatte, kehrte das Entsetzen zurück und machte sich beutegierig in seinem Kopf, seinen Ohren und der kribbelnden Haut seines Nackens breit. »Du kannst getötet werden«, rief er, »und ich habe einen Speer in dir stecken lassen, um es zu beweisen.«
Er stieg die Leiter hinauf, wie er es schon im Tragkörper der Bassett getan hatte, dachte an die tödlichen Gefahren und kletterte so schnell er konnte.
Plötzlich packte ihn etwas am Bein, ein Tentakel oder eine Kralle. Hethor versuchte sich zu bewegen, doch es ging nicht. Erst als mehrere Speere von oben herabregneten, löste sich der Griff. Er eilte weiter die Leiter hinauf, bis winzige haarige Hände ihn auf eine kleine Plattform hievten, von der Seile zum Luftschiff führten.
»Das große Boot der Lüfte war menschenleer«, sagte einer der Männer. »Schnell, über die Ranken.«
Obwohl sie sich dreißig Meter über dem Steinkai befanden, kletterte Hethor wie ein Dschungelaffe über die beiden Seile. Die Tage voller Angst auf der Bassett hatte er hinter sich gelassen, und im Augenblick war ein möglicher Sturz von den Seilen sein geringstes Problem.
Weitere Hände zogen ihn über die Reling. Die letzten jungen Männer folgten Hethor. Als er auf dem Deck lag, schaute er zu Arellya hoch und fragte keuchend: »Wie viele?«
»Wir haben einundzwanzig verloren. Es sind noch zweiunddreißig übrig, außer dir, mir und dem toten Navigator.« Obwohl sie nicht wütend zu sein schien, wie es bei einem Menschen der Fall gewesen wäre, war doch Anspannung in ihrer Stimme zu hören.
»Leinen los.« Als Hethor merkte, dass er nicht die Sprache des vergessenen Volkes gesprochen hatte, fügte er hinzu: »Wir müssen uns von dem Baum lösen.«
»Werft die Ranken hinunter!«, rief Arellya.
Das rochenförmige Luftschiff hüpfte kurz und begann sich dann in den Wind zu drehen. Hethor fragte sich, wer am Steuer stand, bemerkte dann aber, dass die ungewöhnliche Form
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