Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
wegzuschieben, hätte aber genauso gut versuchen können, den gesamten Ozean wegzuschieben. Ergeben schloss er die Augen, suchte nach innerer Ruhe und der unheimlichen, falschen Hoffnung, die er eben noch verspürt hatte. Doch alles, was er fand, war das Knistern kleiner Eiskristalle im Schnee, von denen sich immer mehr auf seine Ohren legten.
Hier also werde ich sterben, ging es ihm durch den Kopf.
Kleine Hände zerrten an seinen Decken und griffen unter seine Kapuze, um ihn an Haaren und Schultern zu packen. Hethor wurde langsam in das Mondlicht herausgezogen. Dort küsste ihn Arellya.
»Du wirst nicht allein sterben«, sagte sie.
»Hoffnung«, krächzte Hethor.
»Wir setzen uns jetzt hin.«
»Weitergehen ...«
»Wir setzen uns.«
»Nein.«
»Setz dich.«
Und so setzten sie sich in einem engen Kreis zusammen. Neun Angehörige des vergessenen Volkes und Hethor legten die Köpfe aneinander und bildeten ein trauriges Zelt aus Körpern. Beinahe zärtlich begann Schnee auf sie herabzurieseln. Hethor fragte sich, wie sie für einen Wissenschaftler aussehen mussten, der das Eis erforschte. Für den Fall, dass die Völker der Welt überlebten, was auf sie zukam, und wenn es überhaupt noch Wissenschaftler gäbe.
Die Antriebsfeder der Welt tickte in seinem Herzen.
»Ich will beten«, flüsterte Hethor. Er versuchte, sich an den Tag zu erinnern, an dem er die klickende, pfeifende Sprache des vergessenen Volkes zum ersten Mal verstanden hatte. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ticken der Antriebsfeder und stellte sich die gewaltigen Hemmungen und Zahnradgetriebe vor, die nötig waren, um die gewaltige Erde zu drehen. Und er konzentrierte sich auf Arellya, auf die Geräusche ihres Wesens, die er mittlerweile fast ständig hören konnte.
Unter der Schöpfung lag Musik. Es war das Getöse von Messing und Federn und Sperrklinken und Anschlägen und Glockenschlägern – die größte jemals gebaute Uhr. Jeder Mann und jede Frau jeder Spezies war nur eine Bewegung innerhalb dieser Musik, ein kleines Bauteil im riesigen Räderwerk einer gigantischen Uhr.
Hethor ließ das Ticken in seinen Ohren lauter werden und nahm sowohl das Ablaufen der Antriebsfeder der Welt wahr wie auch das leise Rattern, das Arellya verkörperte, und füllte alle Leerstellen dazwischen auf.
Die Sterne verfügten über ihre eigene zerbrechliche, strahlende Musik. Der Mond summte auf seinem Weg, und sein silbriges Rattern klang viel heller als das Tosen der irdischen Passage. Die Nachtluft war leise und unüberschaubar. Der rieselnde Schnee bildete kleine helle Punkte und bildete schon bald einen Teppich hellen Schmerzes auf der sich immer langsamer bewegenden Erde. Jeder Angehörige des vergessenen Volkes um ihn her war sein eigenes Lied. Sie alle standen miteinander in Einklang.
Hethors Ohren hörten das Atmen nicht mehr, und auch nicht das störende Pfeifen des Windes. Sie hörten nur noch das Getriebe der Welt.
Alles war nun ein Uhrwerk, ein riesiger Ozean aus Zahnrädern und Federn und Wellen und Hemmungen und Sperren und Schäften und Rädern. Selbst seine Erinnerungen waren ein Räderwerk.
Hethor hatte schöne Erinnerungen.
Er streckte die Hand aus, um die Welt vor sich zu berühren. Der Südpol zeichnete sich in der Ferne ab. Hethor stellte sich ihm und machte sich daran, sich einen Weg dorthin zu bahnen. Er brauchte einen Weg – einen Weg der Erinnerungen.
Er hielt einige der Räder an, setzte ein paar Zahnräder um, bog einige Hemmungen zurück, veränderte die Länge und Frequenz mehrerer Pendel. Dann schlug er einen ebenen, strahlenden Weg aus seinen Erinnerungen ein, der durch den Messingdschungel des kalten Todes führte.
Er schloss die Augen, dankte Gott und dachte an Arellya.
***
Hethor stand auf einem Feld voller prächtiger Mohnblumen, Ringelblumen und all den Pflanzen, die im Frühling in Neuengland blühten. Obwohl keine Sonne am Himmel stand, wirkte das Feld heiter und warm. Der Schnee wirbelte zu beiden Seiten in tödlicher Finsternis, nur hundert Meter entfernt.
Arellya kam von den immer noch zusammengekauerten jungen Männern zu Hethor gehumpelt und umarmte ihn. »Bote, du hast dies vollbracht.«
»Ich ...« Hethor wusste nicht, was er sagen konnte oder sollte. »Das war Gott.«
»Das warst du .«
Er befand sich auf einem Feld, dessen grasgrüner Rain in Richtung Süden verlief und als warmes, buntes Band durch den Schnee und über die Hügelkämme führte. Eine Feder glänzte in der Nähe.
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