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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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unmöglich war.
    Eine Klippe erhob sich vor ihm, eine Felswand, die sich aus dem Sand unter ihr einen Weg ins Freie kämpfte. Die Erinnerungen kehrten noch einmal an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück. Selbst in den düsteren Schatten konnte er noch erkennen, dass es sich um dasselbe helle Gestein handelte, an dem sie am selben Nachmittag vorbeigegangen waren. Die Knochen dieses Landes, die an den sechs Tagen der Schöpfung erschaffen worden waren, waren im Lauf der Weltalter zutage getreten.
    Er näherte sich der Klippe vorsichtig, denn er wusste nicht, was ihn erwartete. Vielleicht aus dem Stein gehauene Löwen oder die gemeißelten Siegel eines Tempels. Magische Tore, die in ihrem eigenen Licht erstrahlten. Was er stattdessen zu sehen bekam, war ein schroff abfallender Fels, an dessen Fuß sich eine Geröllhalde auftürmte, die vermutlich in einem längst vergessenen Zeitalter abgebrochen war.
    Doch diese Geröllhalde wirkte zu ordentlich. Da Boas mehrere Jahrhunderte auf der Mauer verbracht hatte, wusste er genau, wie Steinlawinen aussahen. Sie ergossen sich wie Flussmündungen in die Landschaft und waren eine bunte Mischung aus Fels, Staubkörnern und riesigen Gesteinsbrocken, die sich aus der Mauer gelöst hatten.
    Aber diese Felsen waren fast alle von gleicher Größe, und obwohl sie nicht wie das ordentliche Mauerwerk eines Tempels eingefasst waren, so hatte man sie doch von Hand übereinandergestapelt. Als ob sie von jemandem bewegt worden waren, der sie genau an dieser Stelle hatte haben wollen. Ein Messing, der die schwersten von ihnen stemmte, gemeinsam mit Dutzenden schwitzender Menschen, die sich unter der gnadenlosen Sonne bis auf ihre zerlumpten Hosen ausgezogen hatten. Ein Mann, der im gleißenden Licht der Erinnerung laut Worte ruft, die man nur zur Hälfte hören kann und nur zu einem Viertel versteht. Ein Priester – ein Kohen, wie man sie seit mindestens tausend Jahren nicht mehr auf der Mauer gesehen hatte –, der aus einem Buch vorsang. Sein uralter Segen war selbst in der Erinnerung so mächtig, dass Boas für einen Augenblick glaubte, in der Gegenwart seine Stimme hören zu können.
    Mit einem Blinzeln befreite er sich von dem Anblick und starrte nachdenklich auf die Felsbrocken.
    Ein Messing kann problemlos das Vier- bis Fünffache dessen heben, was ein sehr starker Mann bewegen kann. Obwohl sie Ruhepausen brauchen, ermüden sie nicht, wie es Menschen tun. Affenkörper verlieren nach und nach ihre Kraft, während die Stunden dahinschwinden, und müssen schließlich einschlafen. Nicht der Messing, der auch zur späten Abendstunde genauso schnell laufen und genauso viel heben kann wie im Licht der ersten Sonnenstrahlen.
    Boas schüttelte die Traumphantome ab, die ihn verfolgt hatten, und machte sich daran, die Felsbrocken beiseitezuschaffen. Er wusste intuitiv, welchen er zuerst nehmen musste und welchen danach, denn die Anordnung der Felsen war ihm noch im Gedächtnis. Selbst die größten konnte er noch eigenständig heben, was ein weiterer Beweis dafür war, dass er diesen Ort kannte.
    Boas fragte sich während der harten Arbeit, wie oft diese Felsen schon unter dem Sand begraben worden waren. Wäre er in einer anderen Jahreszeit und damit bei anderen Windverhältnissen hierhergekommen, dann hätte er sie vermutlich niemals entdeckt.
    Kurz vor dem Sonnenaufgang entdeckte er vor sich eine Felsspalte. Boas schob energisch die letzten Brocken beiseite, die den Eintritt behinderten, denn nun war das Verlangen in ihm groß, endlich Zugang zu erhalten.
    Sandmassen rutschten zur Seite. Dieser Ort war eindeutig unter Dünen begraben gewesen. Hinter dem Sand war eine Holzpalisade zu erkennen oder vielleicht eine Tür. Sie wirkte sehr alt, und sowohl ihr Alter als auch das Mondlicht sorgten dafür, dass sie silbern schimmerte; zahlreiche Wurmspuren durchzogen das Holz, das über die vielen Jahre hinweg abgeschliffen worden war. Es handelte sich um geklinkerte Holzplanken, die für ihre Aufgabe an diesem Ort zu einem großen Rechteck zugeschnitten worden waren.
    Ein Stück aus dem Rumpf der Schiffe von Ezion-Gebers Flotte.
    Seine Fingerspitzen glitten über das Holz und spürten den Veränderungen nach, die uralte Meere in der Maserung hinterlassen hatten. Fast dreitausend Jahre waren seit dem Schiffbruch vergangen, der das Volk der Messing hatte entstehen lassen. Die gesamte Geschichte Ophirs verlief durch diese Tür, zurück bis Ezion-Geber und Jerusalem. Zurück zu den wunderbaren Tagen,

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