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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Shen, in dessen Kopf nicht viel Platz außer für ihn selbst zu sein schien. Es war Wang sehr schnell klar geworden, dass Wu in Wirklichkeit die Kontrolle über das Schiff ausübte. Was den Mönch betraf, so war sie … was? Tatsächlich ein Geist?
    Vielleicht waren die Männer des Kô alle Wahnsinnige.
    Wang fühlte sich auf jeden Fall genauso bedauernswert wie sie. Die Treppen waren feucht vom Tau. Wo sich Lücken zwischen Treppe und Stufen ergaben, wuchsen kleine, heimlichtuerische Pflanzen, auch an den Kanten des Geländers. Moose zogen sich an der Felswand entlang.
    Unter ihm war die Fortunate Conjunction , die dampfend Fahrt aufgenommen hatte, nur noch als blasser Umriss in der sich herabsenkenden Dämmerung zu erkennen. Wang hätte niemals gedacht, dass er Chersonesus Aurea jemals vermissen würde – es war noch schlimmer als Hainan gewesen –, aber er bedauerte es, das Schiff ohne ihn an Bord abfahren zu sehen. Die Gewässer, die bei Tag kristallklar gewesen waren, wirkten nun wie schwarzgeronnenes Blut auf ihn, welches das Schiff jederzeit verschlingen konnte.
    Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach oben. Seine Oberschenkel zitterten. Der Brustkorb fühlte sich wie eingeschnürt an. Als er sich auf einem der Treppenabsätze niederließ, stellte er mit Überraschung fest, dass er laut und keuchend atmete.
    Der Mönch, der bereits zwei Absätze weiter war, rief zu ihm hinunter. »Der Aufstieg wird nur noch schwieriger, wenn Sie Ihrem Körper zu oft Ruhepausen gönnen.«
    »Ich kann nicht mehr weiter.« War diese blöde Insel weit über einen Kilometer hoch? Konnte denn niemand sein Geheimquartier auf eine einfache Wiese bauen?
    »Der Weg nach oben führt in den Himmel.«
    »Ersparen Sie mir Ihr religiöses Geschwafel«, rief Wang.
    Lachen war zu hören, begleitet von sich entfernenden Schritten.
    Wenn er ihr einen zu großen Vorsprung erlaubte, dann würde sie schon lange weg sein, wenn er die Spitze erreichte. Es wurde Wang klar, dass in all diesem Durcheinander der Mönch sein einziger, wenn auch merkwürdiger Freund war.
    Sein einziger Freund überhaupt. Er hätte diese gefährliche Engländerin mögen können, die vor nicht allzu langer Zeit in seiner Bibliothek aufgetaucht war; allerdings war sie Engländerin und eine Frau. Intelligent, mit einem geübten Auge fürs Wesentliche.
    Der Katalogisierer kam mühsam wieder auf die Beine. Der Mönch hatte recht gehabt. Seine Beine fühlten sich schwer wie Blei an. Sein Körper wollte nicht mehr weiter, doch welche Wahl hatte er schon? Die Zukunft lag über ihm, die Vergangenheit unter ihm. Er war gerufen worden, nicht geschickt.
    Der Weg nach oben mochte in den Himmel führen, aber im Augenblick zitterten seine Beine, und sein Mund brannte vor lauter Durst.
    Wang begriff zuerst gar nicht, dass er die Spitze erreicht hatte. Die Nacht war nicht völlig dunkel, und das, obwohl die Mauer als schwarze Linie am südlichen Horizont lauerte. Die Sterne funkelten wütend am Himmel. Der Mond würde bald aufgehen. Die Welt schien auf seltsame Weise in Licht zu erstrahlen. Aber vielleicht war das alles nur in seinem Kopf.
    Als er einen Treppenabsatz erreichte, der größer als die bisherigen war, suchte er nach weiteren Stufen. Was er stattdessen entdeckte, war eine Reihe Hibiskuspflanzen, deren nachtblühender Duft deutlich zu riechen war. Als er sich umdrehte und dabei beinahe stolperte, entdeckte Wang eine weitere Reihe. Er drehte sich durch die Trägheit seiner Bewegung weiter, bis er ein großes Tor vor sich sah, dunkel lackiert und mit Messingnoppen verziert. Dieser Eingang war Teil eines sehr traditionellen Tors, das er genauso in jedem Palast des Kaiserlichen Hofs hätte vorfinden können.
    Der Mönch wartete auf der Steintreppe vor dem Tor und gönnte sich eine kleine Pfeife.
    »Ich hätte die Strecke in derselben Zeit doppelt und dreifach hinter mich bringen können, dicker Mann.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und bot ihm etwas zu rauchen an.
    »Nein«, keuchte Wang. »Werde … werde ich erwartet?«
    »Glauben Sie, die Augen dieser Festung übersehen auch nur die geringste Bewegung in ihren eigenen Gewässern?«
    Er ließ sich neben ihr auf die Stufe fallen. »Ich glaube, es gibt im Himmel und auf der Erde mehr Augen, als ich mir jemals habe träumen können.«
    »Sie sind nun dem Himmel um 1207 Stufen näher.« Ihr Lächeln schimmerte durch den Rauch.
    »Ich wurde gerufen, nicht geschickt.« Dieser Satz schien sich sehr schnell zu Wangs Motto zu

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