Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
und antwortete dann auf Englisch: »Ich verstehe Sie nicht.« Musste sie den Schimmer einsetzen, um seine Sprache zu lernen? Die Taschenuhr war so gefährlich. Sie hatte die Leichen im Wasser schwimmen sehen, kurz bevor sie und Ming zur Mauer geflüchtet waren.
Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass Boas sie auf ihrem Abenteuer begleiten könnte. Ming war ein munterer Kerl und recht geschickt, zugleich aber auch sehr unterwürfig. Boas hingegen wäre rücksichtsvoll und weise gewesen. Der Messing hatte immer gewusst, was es zu tun galt.
Paolina nahm die Taschenuhr zur Hand, bevor sie es mit Portugiesisch und anschließend auf Chinesisch versuchte.
Im letzten Augenblick fing er an, rasend schnell in dieser Sprache zu reden. Ming antwortete ihm. Paolina verstand vielleicht zwei von zehn Wörtern, während sie Höflichkeiten austauschten, sich dann einander vorstellten und des gegenseitigen Wohlwollens versicherten. Sie zitterte im Wind.
»Warte«, sagte ihr Begleiter auf Chinesisch. Er hielt eine Hand hoch. »Lass uns hineingehen.« Er sprach jetzt viel langsamer, denn Ming hatte ihrem Gegenüber erklärt, dass Paolina nur wenig von ihrer Sprache verstand. »Feiern, dann reden.«
Sie ließ den Schimmer wieder in die Tasche ihres Kleids gleiten. Paolina war zugleich erleichtert und enttäuscht, weil sie ihn nicht hatte verwenden können. Die Fähigkeit einer Frau, sprechen zu können, würde doch sicherlich die Mechanismen dieser Welt nicht so stark beeinflussen wie ein tonnenschweres Unterseeboot, das sich im unlösbaren Griff eines Mauersturms befand.
Als sie eine Wendeltreppe hinaufgingen, deren Stufen in unregelmäßigen Abständen angebracht waren, drehte sie sich kurz in Richtung Mauer. Es mochte eine Sinnestäuschung sein, aber für einen Augenblick schien die himmelhohe Masse vor ihr die Erdoberfläche und sie nur ein Insekt zu sein, das die Mauer einer anderen Schöpfung hinaufkrabbelte, in dem Wissen, jederzeit in die Tiefe hinabstürzen zu können.
Die Flure im Inneren hatten eine ebenso organische Form wie das Äußere. Die Lehmwände waren mit Zeichnungen in Weiß, Ocker und Gold übersät, die sich nach mehreren Metern Länge in einer Spirale vereinten und in einem Strahlenkranz ihr schillerndes Ende fanden. Die wunderschönen Muster überforderten ihre Augen, faszinierten Paolina aber und machten sie neugierig auf mehr.
Ihr Führer, dessen Namen, Sieben Bäume, Ming ihr kurz zugeflüstert hatte, führte sie zielsicher in einen großen, runden Raum. Eine Reihe schweigender Männer und Frauen, die aus einer Reihe anderer Gänge kamen und gingen, bereiteten alles für ein Festmahl vor. Alle waren so groß gewachsen und dunkelhäutig wie Sieben Bäume.
Acht Matten waren auf dem Boden zu einem Kreis gelegt worden. Jede hatte eine andere Farbe – ein dunkles Kastanienbraun, bei dem das Rot kaum noch zu erkennen war; Graugrün; ein verstaubtes Hellbraun und so weiter.
Auf jeder Matte waren Schüsseln und Kalebassen bereitgestellt worden. Die Inhalte unterschieden sich: püriertes Obst und Gemüse, dessen Duft sich mit Salz und Speisestärke vermischte; kräftige Eintöpfe, deren Geruch und dunkle Farben fast schon an Blut erinnerten; Blattgemüse und fein geschnittenes Wurzelgemüse.
Diese bunte Mischung unterschiedlichster Wohlgerüche ließ ihren Magen laut knurren. Sie und Ming hatten auf ihrer Reise entlang der Mauer durchaus ordentlich gegessen, aber weder hatte es reichlich davon gegeben noch war die Auswahl besonders groß gewesen.
Sieben Bäume breitete die Hände aus. »Esst«, sagte er auf Chinesisch. »Und wir werden wissen.«
Ming trat in die Mitte des Mattenkreises und blieb dann stehen, um Paolina anzusehen. »Welche Sorge hast du?«, fragte er auf Englisch. Er blickte zu ihrem Gastgeber.
»Ich bin mir nicht sicher«, gab sie in derselben Sprache zu. »Frag ihn, was er mit ›wir werden wissen‹ meint.«
Ming sah zu Sieben Bäume hinüber. Er sprach nun langsamer und deutlicher auf Chinesisch, damit Paolina einen Teil ihres Gesprächs nachvollziehen konnte.
»Was werdet ihr wissen, wenn wir essen?«
Sieben Bäume verbeugte sich kurz. »Was der … bedeutet.« Mehrere Worte blieben ihr unverständlich.
Das schien auch bei Ming der Fall zu sein. »Wer ist derjenige, der bedeutet?«
»Diejenigen, die kommen«, sagte Sieben Bäume. »Die Mauer schickt von Zeit zu Zeit Botschafter. Euch. Außerdem versteht ihr oft eure eigenen Ziele nicht. Dieses Festmahl ist dazu gedacht …«
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