Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
auf ihn aufmerksam geworden.«
»Da habe ich so meine Zweifel«, knurrte der riesige Schotte. »Nicht, solange er sich normal angezogen hätte. Sind Ihnen in den Seitenstraßen nicht die chinesischen Geschäfte aufgefallen? Ich habe einen Kräuterarzt, zwei Apotheken und einen Schneider gesehen. Wenn wir ihm Leinenzeug aus der Stadt und ein Paar von den Sandalen mitbrächten, die diese Kanaken tragen, dann sähe er aus wie ein Eingeborener.«
Childress war über diesen Gedanken auf unerklärliche Weise erfreut. »Sie haben unter Umständen gerade unser Lieferantenproblem gelöst, mein Freund.«
Auch wenn der Tag noch jung war, war es hier bereits so heiß wie im Hochsommer New Havens. Sie hielt einen Handwagen an, auf dem sein Besitzer gekühltes Obst und Eisspezialitäten durch die Stadt fuhr und lauthals anpries. »Wie viel?«, fragte sie und deutete auf eine frische Mango.
Er sah sie begierig an, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das eine Schlägerei vor fünfzig oder sechzig Jahren schief hatte werden lassen. »Zehn Annas für die hübsche Dame.«
»Angus«, sagte Childress in dem Tonfall, den sie bei störenden Studenten einsetzte.
Dies war ein wichtiger Test. Die Five Lucky Winds führte natürlich kaiserliche Berechtigungsgutscheine mit sich, aber die wären hier nur gefährlich. Für den Notfall war auch noch Gold vorhanden. Einiges davon hatten sie in al-Wazirs Geldschatullen mitgenommen, aber sie hatten keins der hier üblichen Zahlungsmittel besessen, bis Bai in der Schiffshöhle über einen Sack loser Metallmünzen gestolpert war. Diese waren eindeutig in der Zeit portugiesischer Herrschaft in Goa geprägt worden.
Sie mussten herausfinden, ob diese Münzen zu Problemen führten. Niemand an Bord des Unterseeboots hatte auch nur die geringste Vorstellung, vor wie vielen Jahren die Währung gewechselt hatte, oder ob die Briten sich die Mühe gemacht hatten, das alte Hartgeld aus dem Umlauf zu nehmen.
Gold war sicherlich nützlich, wenn man zweitausend Fässer Diesel kaufen wollte, aber wer auf diesem Markt damit eine Aubergine bezahlte, würde den Händler sicher verzweifelt nach Wechselgeld suchen sehen.
Al-Wazir schob beide Schatullen unter den handlosen Arm und holte dann eine Hand voll réis geringen Werts hervor. Er reichte sie dem Händler, der verächtlich die Augenbrauen hob, sich aber dann vier der Münzen aussuchte. »Verkauft das Familiensilber«, murmelte er, als er ihr eine kleine Papiertüte mit der Mango überreichte.
Childress wandte sich von ihm ab, ohne sich zu bedanken – denn so hätte sich Maske Poinsard verhalten , dachte sie; sie bedauerte kurz den Tod der Frau, deren Rolle sie übernommen hatte –, und biss neugierig in die Frucht. Das helle Fleisch hatte einen angenehm intensiven Geschmack.
»Ich hoffe, sie mundet ihnen, Mylady«, brummte al-Wazir hinter ihr.
Sie lachte, und der sonnenhelle tropische Tagesanbruch vertrieb ihre finsteren Gedanken. Selbstvertrauen regte sich in ihr. »Versuchen wir unser Glück in den chinesischen Straßen. Sollten die Händler die Sprache unserer Freunde beherrschen, dann können sie sich vielleicht mitten unter ihnen verstecken, und unsere Aufgabe wird viel leichter zu bewältigen sein.«
Fünf
Tarsisschiffe vertrieben deine Tauschwaren;
davon wurdest du sehr reich und geehrt im Herzen der Meere!
Hesekiel 27:25
Boas
Er gönnte sich an diesem Nachmittag in einer vom Wind geformten Höhle eine Ruhepause. Von der Sandsteinanhöhe aus konnte er in der Ferne das Meer erkennen und den Tod erahnen, der an dessen Küsten lauerte.
Messing trauerten nicht. Vor allem nicht um Menschen. Abgesehen von Paolina , schien ihm eine verirrte, innere Stimme zu suggerieren, aber er schob den Gedanken entschieden beiseite. Sie ist nicht tot; wie sollte er sie also betrauern? Solange sie irgendwo weiterlebte, als Funke irgendwo in seinem Kopf, konnte Boas weitermachen, selbst wenn er nie wieder von ihr hören sollte.
Wenn er etwas betrauern sollte, dann war das wohl der Verlust des alten Buchs. Boas hatte die Geheimnisse des davidischen Kohen zu schnell überflogen, um sie genau wiedergeben zu können, doch selbst das Wenige, was er noch wusste, würde ausreichen, um Ophir und den Messing neues Leben einzuhauchen. Aber dazu musste er erst nach Hause zurückkehren und es schaffen, auf sich und sein Wissen aufmerksam zu machen – bevor er gelöscht wurde.
Denn genau das war ihm passiert, aus Gründen, die er immer noch nicht verstand. Oder,
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