Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
seine innere Stimme, doch diesmal hatte er sie erkannt. Das Chrisam, das Öl, mit dem seine Stirn gesalbt wurde, brannte leicht.
Die Stimme erwuchs aus den Erinnerungen an Paolina und al-Wazir. Aus seiner Vorstellung, was es bedeutete, ein Mensch zu sein. Aus seiner Vorstellung, was seine erst kürzlich erfolgte Beseelung vollbracht hatte.
Dies war die Stimme des Selbstzweifels, der äffischen Unvernunft, die Stimme der Fehlentscheidungen und kreativer Eingebungen.
Logik entsteht nur in der Auseinandersetzung mit Unlogik. Andernfalls existierte das Universum ohne jede Bestimmung. Versteht ein Stein Logik? Oder die Sonne?
Ein anderer Gedanke: JHWH würde dies so nicht akzeptieren. Er griff zitternd nach dem Zugang zu seinem Unterleib, wo das Sechste Siegel verborgen lag. Es veränderte ihn, führte ihn näher an JHWH heran, so nahe, dass die unendliche Aufmerksamkeit eines Schöpfergotts Boas in einigen Blumen überraschen und ihn so vollkommen gefangen halten konnte, wie die Tilgungen der Messing in Ophir ihn an der Waffenkammer des Westlichen Friedens gefangen gehalten hatten.
Er erschauerte und griff nach seinem Unterleib, doch schien er den Zugang nicht öffnen zu können. Zum ersten Mal in all den Jahrhunderten seiner Existenz verweigerten seine Finger, sein eigener Körper ihm die Gefolgschaft.
»Paolina«, schrie er. »Bitte, hilf mir.« Liebste .
Boas saß eine Zeit lang zitternd da, bis er schließlich aufstand und sich im Schutze der Nacht von den wunderbaren, verlockenden Blumen entfernte.
Genau wie im Osten Krieg zwischen den Kaiserreichen herrschte, herrschte nun in Boas’ Kopf Krieg zwischen den mächtigen Kaiserreichen der Vernunft und des Glaubens. Fest verdrahteter, unkritischer Glaube, der keinen Raum für Zweifel ließ, weil es in seiner Mitte ein Sprachrohr gab, das ihm die Worte von JHWH zuflüsterte.
»Es war nicht meine Absicht, diesen Weg zu beschreiten«, keuchte er und ging weiter nach oben, Richtung Westen, weg von Paolina und allem, für das er Zuneigung entwickelt hatte.
Sobald er sich auf der Straße nach Ophir befand, selbst auf diesem vernachlässigten und verfallenen Endstück, kam Boas schneller voran. Dies war die Landstraße seines Volks, die er vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit al-Wazir beschritten hatte.
Wie große Teile der Mauer war auch diese Gegend verlassen. Anzeichen früherer Besiedlungen waren überall zu sehen – eine Treppe, die in einen Felsvorsprung getrieben worden war und Nichts mit Nichts verband; eine Nebenstraße, die von der Hauptstraße auf eine leere Wiese führte; bearbeitete Steinblöcke, die zwischen den Felsen eines kleinen Geröllfelds neben seinem Weg zu erkennen waren.
Boas wehrte die miteinander streitenden Stimmen in seinem Kopf ab und fragte sich zum wiederholten Male, was dem Leben und den Kulturen auf der Mauer zugestoßen war. Ophir war nur noch ein Schatten früherer Größe. Ein Weltreich, das sich einst an der Mauer von der Küste am Indischen Ozean quer über Afrika bis zum Atlantik erstreckt hatte, war heute kaum mehr als eine streitlustige Stadt. Die Tage, als sie noch große Landstraßen erschaffen und durch das unterirdische Wagensystem an der gesamten Mauer Handel getrieben hatten, lagen tausend Jahre zurück.
Warum? Hatte JHWH geplant, seine Schöpfung wachsen und gedeihen zu lassen, nur um sie dann wieder ins Chaos zu stürzen?
Die Welt war fast sechstausend Jahre alt. Das war eine unbestreitbare Tatsache, denn der Augenblick der Schöpfung war durch die fehlerfreie Dokumentation der Bibel exakt festgehalten und durch die Astronom-Horologen am Hofe Davids nachgewiesen worden, die die Epizyklen und Abläufe am Himmel berechnet und daraus die ursprünglichen Einstellungen rekonstruiert hatten. JHWH hatte sie festgelegt, bevor er Seine Welten in Bewegung setzte.
Dass die Welt seit mindestens tausend Jahren ablief, war ebenso unbestreitbar. Die Flachlandkönigreiche gediehen auf ihre seltsame äffische Weise, doch nichts, was Boas an der Mauer gekannt hatte, verfügte heute noch über seine alte Größe.
Boas fragte sich, ob die Welt ihren Gipfel erreicht hatte. Was, wenn das Erscheinen des letzten Propheten, Jehoschua bin Joseph, der Höhepunkt der Schöpfung gewesen war? Die Welt hatte viertausend Jahre lang vor Seiner Geburt existiert. Vielleicht war der langsame und siechende Niedergang der Zivilisationen der Mauer nichts anderes als die Schöpfung, die in das ungefederte Chaos zurückkehrte, aus der der Herr
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