Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
um genauer zu sein, an die er sich nicht erinnern konnte. Paolina hatte ihm bewiesen, dass eine große Lücke in seiner Erinnerung klaffte.
Boas würde so viel niederschreiben müssen wie möglich, bevor er Ophir erreichte, damit das Wissen nicht vollständig verlorenging.
Dünne Rauchsäulen markierten den Absturzort der beiden zerstörten Luftschiffe. Boas fragte sich, ob Chin Ping überlebt hatte oder einer der anderen seltsamen, gewalttätigen kleinen Männer. Der Löwe und das Einhorn befanden sich nun endgültig im offenen Kriegszustand mit dem kaiserlichen Drachen.
Boas fragte sich, was er deswegen empfinden sollte. Diese Flachlandkönigreiche waren eine Sache für sich. Jeder Bewohner der Mauer verstand dies als grundlegendes Prinzip. Die Absichten Gottes blieben unergründlich, verborgen unter seinem prächtigen Mantel, aber es war klar, dass er mit den Ländern auf den Hochebenen der Mauer anderes vorhatte als mit denen, die weit unter ihnen existierten. Der Schöpfer hatte Seine Kinder in der Höhe mit unermesslicher Vielfalt beschenkt, den Rest der Welt aber mit Wesen bevölkert, die allesamt Affen ähnelten – gierigen, zankenden Affen.
Obwohl Boas einige wunderbare Exemplare kennengelernt hatte, so war er doch der Menschen und ihres Unmuts überdrüssig.
Er schob den Gedanken beiseite und betrachtete die Gussform, die er immer noch in seinen Händen hielt. Wenn es sich tatsächlich um das Sechste Siegel handelte, dann würde dies alles ändern. Die Könige und Propheten der Vergangenheit hatten mit JHWH gesprochen wie Marktbesucher die Hilfe eines Weisen in Anspruch nehmen würden. Der Herr war für sie nicht so unergründlich.
Die Weisheit, die Er Seinen denkenden Kindern in der Schöpfung hinterlassen hatte, war nicht mehr von großem Wert. Die Brände am Horizont waren der Beweis dafür, genauso wie Verschwörungen und Verrat unter den Messing Ophirs. Die Welt lief tatsächlich ab, denn der freie Wille ersetzte wohlbedachten Gehorsam gegenüber dem göttlichen Plan wie eine Epidemie, die sich immer schneller ausbreitete.
Vorsichtig öffnete er ein Fach in seinem Unterleib. Boas wickelte das Sechste Siegel in einige Blätter, die er auf seinem Weg gesammelt hatte, und versteckte es dann in sich. Nachdem er seinen Unterleib wieder verschlossen hatte, spürte er das Ding wie ein Krebsgeschwür, ein ungewohntes Gewicht, das seinen Körper aus dem Gleichgewicht brachte. Seine Gedanken hatte es bereits aus dem Gleichgewicht gebracht.
Wieder diese verirrte Stimme.
»Meine Gedanken gehören mir«, sagte Boas zum Horizont. Er versetzte sich in den regungslosen Ruhezustand, der den Messing als Schlaf diente, und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit.
Bei Tagesanbruch war Boas bereits ein ganzes Stück die Mauer hinaufgestiegen. Er hatte ein ihm vertrautes Land betreten, auf dem verkümmerte Bäume wuchsen und über die Schuttkegel wie in Zeitlupe hinunterflossen. Er betrachtete die kleinen Blumen, die sich im Wind wiegten und deren Existenz nur als Wunder zu bezeichnen war. Sie wuchsen in kleinen Gruppen zwischen den aufgehäuften Felsen, die als schweigende, nahezu unbewegliche Gewässer die Mauer hinabflossen. Mutig reckten sie ihre Blüten in die Luft, Standarten grüner Armeen gleich, die einen längst vergessenen Krieg ausfochten.
Jede Einzelne von ihnen hat JHWH erschaffen , dachte er. Jede Blüte, jedes Blütenblatt, jeder Stängel stellte eine weitere Seite im Buch der Schöpfung dar.
Er setzte sich hin, um eine Zeit lang eine Blüte zu betrachten. Die Außenseiten der Blütenblätter erstrahlten in einem faszinierenden Blau, das zur Mitte hin einen helleren und sanfteren Farbton annahm, bis es schließlich zu einem weißen Kelch wurde, der das empfindliche Pflanzeninnere schützte. Die Blütenblätter rollten sich nun, da ihre Jahreszeit vorüber war, zusammen, und die Schönheit dieser Blume wurde wieder zum Teil des Geistes von JHWH.
Boas setzte sich im schwindenden Licht der Abenddämmerung auf. Er hatte seit dem heutigen Morgen im Geröllfeld gekniet, die Blumen angestarrt und sich in den Gedanken des Schöpfers ergangen, wie Er jedes einzelne Teil der Welt an seinen angestammten Platz brachte.
Dies war im wahrsten Sinne des Wortes unbegreiflich. Niemand sollte die unendlichen Möglichkeiten, die allein in der schlichten Natur einer Blume lagen, begreifen können, und schon gar nicht die vielschichtige Pracht der Erde und des Himmels.
Warum denkst du darüber nach? Schon wieder
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