Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
Vom Netzwerk:
präsentiert hatte. Stattdessen griff der Bootsmann seine Leute praktisch an – er schimpfte sie aus, fluchte über ihre Arbeit und disziplinierte sie, als ob es kein Morgen gäbe. Harrow war einfach überall, drangsalierte die ihm unterstellten Bootsleute und trat seinen einfachen Matrosen ordentlich in den Hintern. Kurz gesagt, er war eine lautstarke Plage für alle Beteiligten.
    »Mr Harrow«, sagte Kitchens zum Hauptbootsmann, als dieser wenige Minuten später fluchend an ihm vorbeieilte. »Hätten Sie kurz Zeit?«
    Harrow unterbrach seine Suche nach einem verlorengegangenen Werkzeug – und dem Matrosen, der es bei sich trug –, um nah an Kitchens heranzutreten. Er sprach sehr sanft und tief, sodass sie nicht belauscht werden konnten. »Sir?«
    »Wie gefährlich ist die Besatzung im Augenblick? Für sich selbst und anderen gegenüber?«
    »Wir sind eine falsche Bemerkung von einer Meuterei entfernt«, sagte Harrow sanft und leise, aber in aller Deutlichkeit. »Ein dummer Satz, und irgendein Kerl schlägt zu, und dann ist alles vorbei. Würde mich nicht wundern, wenn’s auch passiert. Wer immer in der Admiralität Ihnen dieses Schiff gegeben hat, hat Ihnen keinen Gefallen getan, Sir. Die haben Sie mitten in ein Wespennest geworfen, das ist mal klar.«
    Einen Augenblick lang war Kitchens verärgert, trotz all seiner Ausbildung. »Ich bin nicht Ihr Feind, Mr Harrow.« Vor seinem inneren Auge bewegte sich die Queen in ihrem seltsamen Tank auf und nieder, mit leichenblassem Gesicht, aufgequollen und fett. Wer war nun der Feind? Die Chinesen hatten England das nicht angetan.
    »Bitte um Verzeihung, Sir, aber Sie sind der Feind. Jeder Kerl in einem Anzug, der von der Admiralität kommt, wird für die Männer der Feind sein, und das für den Rest ihres Lebens.« Er hielt inne; offensichtlich überlegte er sich seine nächsten Worte sehr gut. »Sir, sollten Kapitän Sayeed oder jemand aus den Reihen der Offiziere das so wollen, wird die Notus nie wieder nach England zurückkehren. Einige Meutereien beginnen ganz oben. Sie sollten sich vielleicht überlegen, diesen Turm hinabzusteigen und in einer anderen Koje unterzukommen.«
    »Vielen Dank, Mr Harrow, aber ich ziehe es vor zu bleiben.«
    Der Bootsmann grunzte und ging dann weiter, ohne auf seine Entlassung zu warten.
    Kitchens wurde klar, dass der Mann nicht ganz unrecht hatte. Ohne Ordnung und Disziplin würden die Männer nicht nur einfach Amok laufen, was Kitchens durchaus erwartete. Es bestünde auch die Möglichkeit, dass das gesamte Schiff desertierte – eine Meuterei vom Vorderdeck bis zu den Offizierskabinen.
    Eine Meuterei, bei der es an dem Tag, an dem sie stattfand, nur ein Opfer gäbe. Er versuchte nicht, sich die Reaktion der Besatzung vorzustellen, wenn sie die Todesurteile entdeckte, die sich in seiner Aktentasche befanden.
    Der Kapitän und seine Offiziere kamen am nächsten Tag ohne großes Brimborium an Bord. Sayeed war ein finsterer Kerl, aber mit einer sauberen Haltung und guten Manieren; er schien die Zeit im Kerker unbeschadet überstanden zu haben. Die sieben Offiziere hatten nicht so gut abgeschnitten, denn viele von ihnen hatten aufgeplatzte Lippen, blutunterlaufene Augen und verbundene Hände davongetragen.
    Kitchens hoffte sehr, dass unter diesen Sieben nicht zufälligerweise der Schiffsarzt war.
    Die Besatzung starrte ihre Offiziere an. Die Offiziere starrten die Besatzung an. Niemand sagte ein Wort, keine Bootsmannspfeife ertönte, kein Willkommensgruß oder gar Befehle. Nur beklommenes Schweigen, das mit jedem Möwenschrei schlimmer zu werden schien.
    Ein Matrose schlug mit seinem Mopp auf das Deck, einmal, zweimal, dreimal. Ein anderer stampfte im Rhythmus mit dem Fuß auf. Binnen weniger Sekunden beteiligte sich die gesamte Besatzung an … was? Einem Willkommensgruß? Einem Salut? Einer Meuterei, wie Harrow sie vorhergesagt hatte?
    Sayeed rieb sich die Hände, warf Kitchens einen eindringlichen Blick aus wütend funkelnden Augen zu und begann dann zu sprechen. Die Besatzung verstummte.
    »… Ordnung sehen auf diesem Schiff.« Die Stimme des Kapitäns war sehr leise, fast bebend. »Wir haben die Flagge Ihrer Majestät gehisst, wir werden uns wie Männer benehmen, die Ihrer Majestät die Treue geschworen haben.« Er atmete tief und zitternd durch.
    Kitchens hatte den Eindruck, als ob Sayeed brüllen wollte, aber auch die nächsten Worte wurden leise gesprochen.
    »Zurück auf eure Posten. Bereitet das Schiff zum Ablegen binnen einer

Weitere Kostenlose Bücher