Die Räder des Lebens
der sich dem Admiralitätsgebäude näherte, sofort als fremdländisch einordnete.
Sie wirbelte herum und sah Leung an, um ihn womöglich zu warnen, dass etwas Bedenkliches geschehen könnte. Der Kapitän und der Admiral sahen sie nach ihrer plötzlichen Bewegung beide an.
»Es kommt jemand«, sagte Childress. »Ein großgewachsener Mann aus meinem Volk.«
Shang nickte nur. Leung wirkte überrascht und sah den Admiral mit zusammengekniffenen Augen an. »Was haben Sie getan?«, fragte er auf Englisch.
Der Admiral ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich hin, ohne ihm zu antworten. Er bedeutete Leung, hinter ihm Aufstellung zu nehmen; der Platz, der in der Regel seinem Adjutanten zustand. Childress blieb am Fenster, das ihr zur Verbindung mit der Welt der Chinesen geworden war. Sie fragte sich, wann sie das erste Mal Angst vor Menschen ihres eigenen Volkes bekommen hatte.
Der Besucher wurde kurz darauf hereingeführt. Er war ein großgewachsener Mann, dessen Haare noch weißer als Shangs waren, aber es waren die blassen Augen, die den Verdacht des Albinismus Lügen straften. Der Weg hierhin hatte seine Haut leicht gerötet. In einer Hand hielt er einen Gehstock mit Messingknauf, der aus einem dunklen Holz hergestellt worden war.
Dieser Mann war unzweifelhaft Europäer. Keine menschliche Sonderform wie Shang, auch nicht Mitglied einer unbekannten Volksgruppe.
Shang sprach ihn auf Chinesisch an. Childress bekam nur mit, dass eine Frage gestellt wurde. Der groß gewachsene Mann nickte und antwortete in derselben Sprache.
»Sie ist hier anstelle der Maske Poinsard«, sagte Leung in die darauf folgende Stille hinein.
»Die Welt ist ein seltsamer Ort und bringt uns allen noch seltsamere Geschenke.« Diesmal nickte der Europäer Childress zu. »Ich bin William of Ghent.«
Der Hexenmeister! Ihre Tarnung war aufgeflogen! Jetzt blieb ihr nur noch die Möglichkeit, so frech wie Oskar zu sein, genau wie ein Student, den man während der nächtlichen Ausgangssperre erwischt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Dreistigkeit belohnt würde. Childress war sich sicher, dass ihr demütige Bescheidenheit nicht helfen würde.
»Mein Name ist Emily McHenry Childress, Maske der avebianco , die anstelle von Maske Poinsard hier ist, um sich gegen das Projekt an der Mauer auszusprechen.« Erinnerungen erwachten in ihr. »Mir wurde mitgeteilt, dass Sie tot seien. Aus zuverlässiger Quelle.« Aus der besten aller nur erdenklichen Quellen, denn der angebliche Tod dieses Manns war der Grund, dass sie dem Schweigsamen Orden hatte geopfert werden sollen.
»Ich möchte Ihnen sagen, dass diese Berichte übertrieben sind, aber wie bei vielen Gerüchten hat auch dieses einen bedauerlichen wahren Kern.« Als er das sagte, wirkte er fast schwermütig. »Wenn mein Ableben Ihnen Schwierigkeiten bereitet haben sollte, so bedaure ich dies zutiefst und von ganzem Herzen. Ich kann mich leider nicht daran erinnern, wie wir uns kennengelernt haben.«
»Das haben wir nicht«, sagte Childress. »Aber es mag durchaus eine indirekte Verbindung geben.« Sie konnte nichts vor diesem Mann verbergen, weder Unbedeutendes noch Epochales, nicht, wenn sie darauf hoffen wollte, ihre aktuellen Absichten zu verschleiern. Bitte, Gott, betete sie, lass eine Lüge ausreichend sein .
»Tatsächlich«, sagte William. »Wie faszinierend.« Er sah sie mit einem durchbohrenden Blick an, der ihre Gedanken und ihr Herz offenzulegen schien. »Sie haben ihn getroffen, nicht wahr?«
»Wen«?, fragte Childress, obwohl sie sich recht sicher war zu wissen, wen er meinte.
»Den Jungen, Hethor.«
»Ja. Ich habe ihn zu Ihnen geschickt. Vermutlich einer meiner schlimmeren Fehler. Der Schlimmste von allen.«
»Madam, wenn Sie ein Leben geführt haben, in dem nur ein großer Fehler möglich war, dann bekümmerte mich das. Aber im Fall des jungen Hethor hat sich Ihr Urteilsvermögen am Ende als richtig erwiesen.«
»Die Welt dreht sich weiterhin.«
Er nickte. »Und daran habe ich keinen Anteil, möchte ich betonen. Der Junge hat viele Veränderungen herbeigeführt, bevor er das Zeitliche segnete.«
»Er ist also tot?« Traurigkeit erfüllte ihr Herz, als sie an den Jungen dachte, an dessen Leben sie nur eine Stunde Anteil gehabt hatte.
»Nicht … wirklich. Er ist auch nicht toter als ich. Ihnen mag der Hinweis genügen, dass die Belange der Nördlichen Welt ihn nicht länger betreffen.«
Hethor lebte also sein Leben nun südlich der Mauer, nachdem er Großes bei
Weitere Kostenlose Bücher