Die Räder des Lebens
stehen.
Ich lebe , ermahnte sich Childress, fuhr Routen auf der Karte mit ihrem Finger nach und fragte sich, was die Inseln und Küsten ihr anboten. Ich lebe.
Ihre Schuldgefühle und die Ängste der Vergangenheit, selbst – oder vor allem – der Untergang der Mute Swan schienen sich zu einer normalen Erinnerung verändert zu haben. Es gab Vieles, um das sie trauern konnte. Doch sich auf dieser Reise zu befinden, anstatt den Tod in einem europäischen Kerker zu erwarten, wann immer der Schweigsame Orden ihn befehlen mochte, war ein großes Geschenk, dem sie sich nicht verweigerte.
Vierzehn
Paolina
Die Star of Gambia verließ Marseille dampfend in Richtung Messina, Kalamata, Tyros, des Suezkanals und noch weiter entfernte Anlegestellen. Ilona Bartholomew, die an sich selbst immer noch als Paolina Barthes dachte, war als Passagierin der zweiten Klasse an Bord gegangen – die siebenundvierzig Pfund für die eigentliche Fahrt und fünf zusätzliche Pfund, die der Zahlmeister als ›damit verbundene, weitere Transportkosten‹ bezeichnet hatte, waren bereits bezahlt. So weltfremd Paolina auch war, so erkannte sie eine Bestechung, wenn sie damit konfrontiert wurde. Es blieb ihr ohnehin nicht viel übrig außer zu lächeln, zu zahlen und dankbar dafür zu sein, dass dieser kleine Betrug sie nicht noch mehr kostete.
Selbst im Oktober lag die Erinnerung an den Sommer noch auf dem Mittelmeer. Die küstennahe Brise war warm und zurückhaltend, die Wellen schimmerten im gemächlichen Auf und Ab eines friedfertigen, dunklen Blautons. Paolina hatte noch nie einen Winter erlebt, aber sie hatte in Dickens’ Texten darüber gelesen, und einige Bewohner Praia Novas hatten Geschichten über Schnee und Eis erzählt. Es war eine intellektuell durchaus interessante Vorstellung, gefrorenes Wasser vom Himmel herabregnen zu sehen, aber es verlangte sie nicht danach, diese Mischung aus eiskalter Luft und Niederschlag tatsächlich zu erleben.
Soweit es sie betraf, hatte Gott geplant, dass alle Tage auf der Welt das ganze Jahr über gleich zu sein hätten und es des Nachts immer warm sein sollte. So war es zumindest an a Muralha . In ihrem tiefsten Inneren erwartete Paolina, dass es so sein musste und nicht anders.
Das Frachtschiff war vermutlich schon baufällig gewesen, als es seine Werft verlassen hatte. Die Besatzung war eine bunte Mischung aus Afrikanern, Arabern und Südeuropäern – eine wesentlich dunkelhäutigere Mannschaft als Sayeeds, wo der Kapitän selbst die dunkelste Hautfarbe aufwies. Sie schienen auch keine große Angst davor zu haben, sie überhaupt mit an Bord zu nehmen. Es gab noch drei weitere weibliche Passagiere, und zwei der Offiziere hatten ihre Frauen dabei – oder zumindest Frauen.
Sie war die einzige Frau, die allein reiste. An der Mauer war dies nicht von Bedeutung gewesen, denn dort hatte sie sich hauptsächlich darum Sorgen gemacht, wo sie etwas zu essen finden konnte, ohne dabei selbst gegessen zu werden. In den Ländern der Nördlichen Hemisphäre schien eine angemessene Schicklichkeit von größerer Bedeutung zu sein als vernünftiger Menschenverstand. Sie hatte den Eindruck, dass die fidalgos die Welt beherrschten.
Paolina fing langsam an, die Einstellung der alten Männer in Praia Nova wertzuschätzen, denn wenigstens waren sie selbst auf diese Ideen gekommen. Diese Erkenntnis verschlimmerte das Ganze nur.
Ihre Anstrengungen, England zu erreichen, hatten in einem grandiosen Fehlschlag geendet. Sie hatte die englischen Zauberer niemals getroffen, von denen sie geglaubt hatte, dass es sie geben müsse. Mittlerweile war sie zu dem Schluss gekommen, dass es sie in der Nördlichen Welt heute nicht mehr gab. Die Agenten der Königin in Straßburg waren die Bewacher der Schwilgué-Uhr, nicht ihre Erbauer, nicht einmal ihre ehrlichen Diener.
Und zu allem Unglück hatte sie den Schimmer verloren. Sie fragte sich andauernd, ob sie für die Katastrophe in Straßburg verantwortlich zeichnete. Doch dann beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass der Schweigsame Orden ihr den Schimmer gewaltsam entrissen hatte und damit Schindluder getrieben haben musste.
Die Logik dieser Argumentation erschien ihr aber auch wieder als zu eigennützig, zu plump. Hätte sie dieses Ding nicht gebaut, hätte sie es nicht auf diese Welt gebracht, dann hätte es auch niemals in die Hände des Bischofs und seiner Männer fallen können.
Was, wenn ihr Ehrgeiz sie nach noch höheren Zielen hätte greifen lassen? Wie viele wären
Weitere Kostenlose Bücher