Die Räder des Lebens
war schreckenerregend und zerrte mit wütendem Griff an ihr; er trug eine Mischung aus salziger Gischt und waagerecht fallendem Regen mit sich, die Paolina nach nur wenigen Schritten bis auf die Haut durchnässte.
Sie war für die Reling dankbar, denn das Schiff krängte und stampfte in der rauen See.
Als Paolina ihre Kabine erreicht hatte, wrang sie ihre Kleidung aus und dachte über den Sturm nach. Sie hatte ihr gesamtes Leben lang von Praia Nova aus atlantische Stürme miterlebt – riesige, grausame Monstren, deren Kraft den gesamten Horizont verdeckte, die auf Beinen aus Blitzen heranstampften und die Boote ihres kleinen Dorfs und die Menschen darin zu ertränken drohten. Dabei wurde die Luft immer so dünn, dass ihr der Kopf wehtat. Doch sie hatte sich nie auf dem Wasser befunden, als eine dieser sich langsam vorarbeitenden Mauern aus Wasser sich auf sie zu bewegte. Die Frauen Praia Novas durften nicht auf die Boote, außer es handelte sich um einen Notfall. Zu ihren Lebzeiten hatte es keinen einzigen Notfall zur See gegeben, der die Anwesenheit von Frauen auf einem Boot nötig gemacht hätte.
Sie hing ihre klatschnasse Kleidung an einem der Rohre auf, die an der niedrigen Kabinendecke entlangliefen. Dann kuschelte sie sich in ihr kleines Bett und hielt sich an dem flachen Geländer fest, während das Schiff durch den Sturm stampfte.
Wäre der Schimmer vielleicht in der Lage gewesen, diesen Sturm zu beruhigen? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das vonstattengehen sollte. Es gab keinen Motor, nicht wie bei einem Luftschiff. Es gab kein Zentrum, das sich durcheinanderbringen ließ. Das Weltwetter war vielmehr eine riesige Maschine, die die Größe der gesamten Nördlichen Welt umfasste und deren unsichtbare Einzelteile sich miteinander bewegten und ineinander verschoben. Paolina hätte nicht gewusst, wie sie in einen derart komplexen Mechanismus eingreifen könnte; genauso gut hätte sie versuchen können, die Venus in ihrem Orbit zu berühren.
Dennoch vermutete sie, dass der Schimmer etwas hätte erreichen können. Vielleicht eine künstliche Ruhezone erschaffen, das Schiff gleichmäßig über Wasser halten oder die schlimmsten Brecher abwehren.
Außerdem handelte es sich um das Mittelmeer , eine im Vergleich zum Atlantik recht flache Wasserfläche, die auf allen Seiten von Landmassen umgeben war. Einer der mächtigen atlantischen Stürme wäre wesentlich schlimmer als das hier.
Es war aber auch müßig, weiter darüber nachzudenken. Sie hatte den Schimmer verloren. Obwohl sie sich mit Die Abenteuer von Huckleberry Finn in Haiti abzulenken versucht hatte, so hatte sie diesen Verlust doch nie ganz aus ihren Gedanken verdrängen können; wie ein verwundetes Tier oder wie ein wütendes Kind kratzte es immer wieder am Rande ihrer Wahrnehmung.
»Ich habe dieses Ding gebaut«, teilte sie der schwankenden Kabine mit. »Es hat getötet und dann noch mal getötet. Erst Chinesen, dann Bewohner Straßburgs.« Es spielte keine Rolle, dass der Schweigsame Orden die Hand gegen sie erhoben hatte – sie hätte ihm genauso gut eine scharfgemachte Granate in die Hand drücken und lachend wegrennen können.
Mit der Macht, die sie dem Schweigsamen Orden übergeben hatte, konnte dieser die Welt vernichten.
Das electrische Licht in ihrer Kabine flackerte zweimal auf und erlosch anschließend. Sie war froh, in dieser Nacht, bei diesem Sturm, nicht an Deck zu sein. Paolina kuschelte sich noch tiefer in ihre Decken und entschloss sich, eine zweite Taschenuhr zu bauen. Die brennenden Trümmer des chinesischen Luftschiffs verbanden sich vor ihrem geistigen Auge zu einer mächtigen Rauchfahne über der Ruine des Straßburger Münsters.
Es war zu viel für sie; es war viel zu viel für die Welt.
In dieser Nacht träumte sie von einer Messingarmee, die durch Europa marschierte, kleine und große Städte ausgebrannt zurückließ und die Feinde in ein nördliches Meer trieb. Nur sie konnte sie aufhalten, denn sie besaß einen Dent-Schiffschronometer. Und doch – obwohl sie die Macht dazu besaß, hatte sie kein Interesse daran, die versammelten Kräfte von a Muralha aufzuhalten und das Britische Empire zu verschonen.
Die Dampfmaschine an Bord der Star of Gambia nahm während des Sturms Schaden. Der Kapitän informierte die Passagiere darüber, war aber anscheinend der Ansicht, keine detaillierten Aussagen treffen zu müssen. Kurz gesagt, ließen seine Ausführungen darauf schließen, dass sie Tyrus mit drei Tagen Verspätung
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