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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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beflügelte sie auf eine Weise, wie sie sie seit ihrer Abreise aus New Haven nicht mehr empfunden hatte. Schon lange, bevor sie New Haven verlassen hatte.
    Dafür war sie geboren – sich im Sonnenschein durch die hektische Betriebsamkeit einer fremden Stadt zu schieben und Pläne zu schmieden, um die Welt vor ihren törichten Herrschern zu beschützen. Sie würde vermutlich nicht mehr lange leben, aber Childress spürte, dass sie zufriedener war als jemals zuvor in ihrem Leben.
    Einige Tage später gesellte sich Kapitän Leung zu Childress, als sie im Hafen spazieren ging. Er war gezwungen, sich durch die Kinder- und Bettlerhorden zu kämpfen, die ihr folgten und die sie überhaupt nicht störten.
    Weder seine Uniform noch die Pistole, die er heute trug, schienen der sie bewundernden Horde Angst einzujagen.
    Er sah sich um. »Die Five Lucky Winds ist bald wieder seeklar.«
    »Dann ist es ja gut, dass ich dafür bereit bin.«
    Er lächelte. »Sehr gut. Ich könnte die Abreise meines Schiffs schlecht wegen einer fehlgeleiteten Frau aufschieben.«
    Childress folgte ihm, während um sie herum das Gedränge der murmelnden Chinesen nicht abnahm. Es handelte sich vor allem um die ganz Jungen und die ganz Alten. Der Marinestützpunkt wurde weder durch Mauern noch durch Tore von der Stadt getrennt. Sie gingen einfach die Hafenanlagen der Marine entlang, wo einige bewaffnete Matrosen Leung und Childress den Zugang zum Kai erlaubten. Dann hielten sie die restliche Menge mit finsteren Drohungen davon ab, ihnen zu folgen.
    Sie sah auf das Wasser hinaus. Die Five Lucky Winds lag am nächsten Kai vor Anker. Sie lag tief im Wasser, und sanfte Wellen schlugen gegen den gerundeten Rumpf. Was immer man in ein solches Fahrzeug laden konnte, befand sich also an Bord – Brennstoff, Vorräte, Ballast, alles was dazugehörte. Vögel schossen auf das Wasser herab, drehten kreischen ab und folgten zusammengeklumpten Nahrungsabfällen, die langsam die Bucht durchquerten. Das Sonnenlicht reflektierte auf den flachen Wellenkämmen und wirkte wie eine strahlende, geheimnisvolle Schrift, die mit jedem Lufthauch neu geschrieben wurde. Hier draußen kämpften die Meeresluft und die Gerüche der Gezeiten mit den überwältigenden menschlichen Ausdünstungen Tainans an Land. An diesen Duft hatte sie sich fast gewöhnt.
    Sie legten vor Sonnenaufgang ab und bewegten sich langsam in die Meerenge hinein. Obwohl sie die Brücke und den Maschinenraum immer noch nicht betreten durfte, wirkte es kaum noch so, als wäre Childress eine Gefangene. Einige Mitglieder der Besatzung waren durch neue Rekruten oder Ersatzleute ausgetauscht worden, aber die meisten kannten sie gut genug, sodass sie sie beim letzten Appell am Abend zuvor mit einer gewissen, besitzergreifenden Art freundlich gegrüßt hatten.
    Selbst der neue Politoffizier schien sich ihr zu beugen. Feng war ein schmaler, nervöser Mann, der Angst vor Childress zu haben schien. Sie vermutete, dass Admiral Shang bei der letzten Einsatzbesprechung recht ungezwungen mit Feng geredet hatte, bevor er den Mann an Bord schickte.
    Nun saß sie in der kleinen Offiziersmesse und musterte eine chinesische Karte der asiatischen Küstenlinien. Auf ihrer Reise vom Atlantik hierher hatte sie einige Brocken gelernt, aber Childress wusste, dass sie die geschriebene Sprache niemals verstehen würde. Ihr Kopf war einfach nicht in der Lage, eine direkte Verbindung zwischen den tausendfach auftauchenden Schriftzeichen und ihren ausgesprochenen Gegenstücken herzustellen.
    Im Gegensatz zu den Seekarten ihrer vorherigen Reise konnten ihr vertraute Umrisse nicht dabei helfen herauszufinden, was sie vor sich hatte. Der Atlantik und auch die Arktis waren immer nur am Rande ihrer Wahrnehmung aufgetaucht – Karten in Zeitungen, Seekarten, die in Restaurants hingen, Flugblätter, die diese Forschungsreise oder jene Schlacht besprachen. Der Pazifik hätte genauso gut auch der Mond sein können, so wenig wusste sie über ihn.
    Dennoch war eine Karte eine Karte. Leung hatte ihr ihren Kurs grob gezeigt. An Bord eines Unterseeboots waren die Möglichkeiten für Besichtigungstouren notwendigerweise eingeschränkt – es gab keine Reling, an der man stehen und über die man hinwegsehen konnte –, aber sie konnte sich die Dinge immer noch vorstellen. Da in diesen Gewässern keine Feinde zu erwarten waren, fuhr die Five Lucky Winds oft an der Oberfläche durch das Südchinesische Meer. Das gab ihr die Gelegenheit, auf dem Turm zu

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