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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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erreichen würden, denn sie konnten nicht einmal mehr mit halber Kraft fahren.
    »Wir befinden uns nicht in Gefahr«, stellte Kapitän Dagleish fest, als er vor ihnen im Speisesaal der Passagiere stand. Seine Uniform war gebügelt worden, aber es waren Flecken auf der weißen Kleidung zu sehen, und ein Ärmelaufschlag trennte sich auf – nichts, was auch nur annähernd an die scheinbar zwanglose Präzision erinnerte, an die sich Paolina an Bord der Notus gewöhnt hatte. Er musste sich auch dringend rasieren.
    Dagleish räusperte sich und sprach weiter. »Jedenfalls setzen ihre Buchungen keinen festen Zeitplan voraus. Leider können wir niemanden über unsere Lage benachrichtigen, außer uns überholt ein anderes Schiff unter Volldampf. Sollte dies geschehen, dann werden wir selbstverständlich die notwendigen Signale übermitteln.«
    »Also werden wir als vermisst gelten?«, fragte Blanchard, der Ingenieur auf dem Weg nach Indien.
    »Drei Tage Verspätung führen normalerweise nicht dazu, dass Alarm geschlagen wird.« Der Kapitän klang zuversichtlich. »Wir befinden uns auf einem der meistbefahrenen Seewege der Welt. Es ist wesentlich wahrscheinlicher, dass wir die notwendigen Benachrichtigungen ohne Probleme weitergeben können. Die Reparaturen werden vermutlich auch nur wenige Tage dauern.«
    Es gab noch weitere Fragen, in der Regel recht unsinnige, die der Kapitän mit offensichtlichem Widerwillen beantwortete. Als er sich verabschiedete, wurde ein leichtes Mittagessen serviert – ein Salat, dessen Blätter weder frisch noch knackig waren, und Brot, dem man sein Alter ansah.
    Das verhieß nichts Gutes für die Dinge, die noch auf sie zukommen würden.
    An diesem Nachmittag stand Paolina an der Steuerbordreling und betrachtete das schäumende Kielwasser. Es wirkte nicht viel anders – die Schiffsschrauben drehten sich in üblichem Einklang, obwohl ein Dampfkessel ausgefallen war. Sie konnte auch keinen Unterschied im Rhythmus des Maschinenlärms entdecken, und die Rauchmenge aus den beiden schmalen Schornsteinen war dieselbe geblieben.
    Blanchard und seine Frau Winona traten an der Reling an sie heran.
    »M-m-mein Ehemann«, begann die Frau, stammelte aber so sehr, dass sie hochrot anlief und nach einigen unzusammenhängenden Worten verstummte.
    Paolina sah über ihre Schulter Blanchard an. Auch er errötete. »Vielleicht möchte sich Ihr Ehemann mit mir unterhalten, ohne sich dabei unschicklich verhalten zu wollen?« Das gehörte zu den Dingen, die in der englischen Literatur gang und gäbe waren.
    »Ja.« Mrs Blanchard versteckte sich halb hinter Mr Blanchard, fast so, als ob sie dort Zuflucht suche, und schwieg.
    »Meine Aufmerksamkeit gehört ganz Ihnen, Sir«, unterbrach Paolina die daraufhin entstehende peinliche Pause.
    »Äh ja, gewiss.« Er räusperte sich. »Mir ist, äh, aufgefallen, dass Sie unter Umständen eine vielschichtigere junge Frau sein könnten, als ein erster Eindruck vermuten ließe.«
    Wenigstens näherte sich ihr Blanchard mit einem gewissen Maß an Würde und Höflichkeit, ganz im Gegensatz zu den Männern, die sie bisher kennengelernt hatte und die von ihren Privilegien vollständig überzeugt gewesen waren. Sie korrigierte diesen Gedanken, denn Lachance gehörte möglicherweise auch zu den Ausnahmen. »In meiner Erfahrung sind die meisten Menschen vielschichtiger, als man in der Regel glaubt.«
    »Sicherlich. Sie scheinen eine ungewöhnlich aufmerksame Beobachterin sein. Ich habe zum Beispiel bemerkt, wie Sie die Stützbalken zählten, die die Brücke tragen. Das habe ich auch getan, denn ich bin als Ingenieur sozusagen von Beruf aus neugierig. Allerdings gehört dies nicht zu den Dingen, die ich von einer Frau erwarten würde.«
    »Und Sie haben mich angesprochen, um mit mir über meine unerwarteten Hobbys zu diskutieren?«
    »Nein, nein, Fräulein. Ich bitte um Entschuldigung.« Er sah sich um und wirkte äußerst vorsichtig. »Es geht eher um Folgendes: Ich nehme an, auch Sie haben bemerkt, dass mit diesem Schiff nicht alles in Ordnung ist. Außerdem gibt es in Tyrus keine Werften. Ein Aufenthalt wegen Reparaturen wäre daher ziemlich schwierig. Da ist etwas faul im Staate Dänemark. Und wenn ich mich umschaue, wer oder was zum Ziel krummer Dinge werden könnte, dann führen mich meine Überlegungen unweigerlich zu Ihnen.«
    Winona Blanchard starrte sie über die Schulter ihres Ehemanns nachdenklich an. Sie wirkte auf einmal gar nicht mehr so einfältig, wie sie es eben noch

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