Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake

Vom Netzwerk:

gedacht hatte.
    Paolina stellte sich die Frage, welcher der beiden Blanchards in Wirklichkeit vorgeschlagen hatte, sie anzusprechen. Sie beschloss, sich bei passender Gelegenheit in aller Ruhe mit Madame Blanchard zu unterhalten. Die Frau könnte ihr eine Freundin sein, aber natürlich könnte sie auch eine Agentin des Schweigsamen Ordens sein. Genauso wie Kapitän Sayeed.
    Die Rolle, die sie hatte spielen wollen, war schon allein durch dieses Gespräch kompromittiert. Paolina blickte über das Meer zur kilometerweit entfernten Küste hinüber. Die Strecke schwimmend zurückzulegen, war unmöglich; eine schnelle Flucht damit auch.
    »Ich habe wirklich keine Ahnung, was faul im Staate Dänemark sein sollte«, sagte Paolina. »Ich reise mit finanzieller Unterstützung aus dem Nachlass meines Vaters, um mich mit meinem Onkel in Mogadischu zu treffen. Er wird mich mit angemessener Unterstützung in die Gesellschaft einführen.«
    Blanchard kniff die Augen zusammen. »Nun, es scheint mir, dass es in einer so weit entfernt liegenden, verlassenen Stadt wohl kaum eine angemessene Gesellschaft geben kann.«
    »Da die mir zustehende finanzielle Unterstützung auch nicht entsprechend angemessen ist, konnte ich wohl kaum zu Hause bleiben und dort leben, bis mir das Geld ausgeht.« Sie erfand schnell eine Geschichte aus den Erfahrungen der letzten Zeit, ihrer jüngsten Lektüre und ihren Beobachtungen des englischen Charakters. »Ich hätte mich dann als Hure oder Schlimmeres verdingen oder in der Küche eines früheren Nachbarn schuften müssen. Meiner Ansicht nach waren meine bescheidenen Mittel nicht dazu geeignet, mir eine annehmbare Einführung in die Gesellschaft zu ermöglichen, vor allem, da all dies ohne die schützende Hand eines fürsorglichen Manns hätte geschehen müssen, der mich hätte beschützen können.«
    Er dachte einen Moment darüber nach. »Und wo hätten Sie ihr Debüt gehabt?«
    Sie wollte eine Antwort um jeden Preis umgehen, aber es war eine sehr einfache und logische Frage. Woher kommen sie? Blanchard war ein weit gereister Mann. Welche Antwort konnte sie ihm geben, die er nicht sofort als falsch durchschaute?
    »Straßburg«, platzte es aus Paolina heraus.
    »Ah.« Blanchard lächelte. »Nous sommes tous les fils de Charlemagne.«
    »Ich muss darüber nachdenken, warum das Schiff langsamer fährt, Sir«, sagte sie steif und wich seinem merkwürdigen Blick aus. »Ich kann nicht glauben, dass es mit mir zu tun hat, denn dafür gibt es noch eine Menge anderer Erklärungen.«
    Paolina wendete sich von der Reling ab und versuchte trotz der panischen Angst, die sie plötzlich befiel, nicht wegzulaufen. Dieses Gespräch hatte sie äußerst ungeschickt gehandhabt.
    Später, als Mrs Blanchard an ihre Privatkabine klopfte, stellte Paolina sich schlafend. Sie konnte sich nur einige Stunden verstecken, aber wenn sie sich wieder sehen ließ, dann musste sie eine Geschichte parat haben, die nicht ganz so albern klang.
    Nein, ich stamme nicht wirklich aus Straßburg, aber wenn ich ihnen die Wahrheit sagte, dann wären wir alle in großer Gefahr. Der Vorteil einer solchen Aussage war natürlich ihre Aufrichtigkeit, aber ein solches Vorgehen war aus anderen, wesentlich offensichtlicheren Gründen unmöglich.
    Mein Vater hat mich nach Straßburg gebracht, weil er dort für die Eisenbahn gearbeitet hat. Eine nachvollziehbare Erklärung, warum sie die Sprache nicht beherrschte, aber das würde ihre ursprüngliche Herkunft wieder in den Vordergrund rücken.
    Ich wurde jenseits der Grenzen des Empire geboren und erzogen, und mir ist dies alles fremd. Sowohl Inhalt als auch Aussage stimmten, aber das würde nur weitere Fragen nach sich ziehen, die sie unmöglich ehrlich beantworten konnte.
    Stattdessen blieb sie so lange liegen, bis ihr die Arme und Beine einschliefen. Ihre ansonsten lebhafte Fantasie brachte keine neuen Ideen hervor. Schließlich stand sie auf und trat in den Sonnenuntergang des Mittelmeers hinaus. Das Wasser jenseits der Steuerbordreling schillerte in der gesamten Farbbandbreite des Regenbogens.
    Was bedeutete, dass das Schiff fast genau nach Süden dampfte, anstelle Richtung Südosten, wo Tyrus lag. Die Star of Gambia hatte den Kurs geändert, ohne dass es den Passagieren mitgeteilt wurde. Sie schien auch durchaus mit voller Kraft voraus zu fahren.
    Paolina blickte zur anatolischen Küste zurück. Konnte sie diese Strecken schwimmend überwinden? Nicht jetzt, nicht, wenn noch so viele Kilometer zwischen