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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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der Stadt lagen im Dunkeln. Der Mix von Geräuschen und Gerüchen hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen und wirkte wenig einladend. Jetzt erschien ihr das Warten weniger als Enttäuschung, sondern eher als Geschenk, denn sie musste sich nicht in diese Schwärze begeben.
    Der Wind trug Musik zu ihr herüber, gespielt auf einem Instrument, das selbst diese Dunkelheit durchdrang. Es schien Paolina zuzurufen, dass sie an Land gehen, die Kleidung einer Frau in dieser Stadt anziehen und einfach jemand anders sein könne. Alles, was sie getan hatte, alles, was sie geworden war, wäre dann so vergänglich wie diese Klangfetzen, die der Wind hinfortwehte. Der Gedanke an Flucht nagte an ihr und ließ ihr Tränen in die Augen steigen.
    »Ich bin nichts Besonderes«, flüsterte sie. »Ich bin nur ein Mädchen.«
    Sie wusste, dass das nicht stimmte.
    Was immer sie mit ihrem Kopf und ihren Händen zu leisten vermochte, was immer ihr auch dabei geholfen hatte, den Schimmer zu erschaffen und Hunderte von Problemen hier auf der Star of Gambia mit einem Blick zu erkennen, würde sich nicht einfach in Luft auflösen, weil sie sich dazu entschloss, Eier auf dem Marktplatz zu verkaufen. Der Schweigsame Orden würde weiterhin nach ihr suchen. Die Royal Navy würde ihre Suche auch nicht einfach aufgeben, selbst wenn der Versuch, sie in Tyrus zu stellen, nicht von Erfolg gekrönt gewesen war. Die Jagd würde mit frischer Kraft fortgesetzt werden, sobald Kapitän Sayeed seinen Bericht eingereicht hatte; mal ganz abgesehen von dem, was dieser Schurke al-Wazir von seinem Stützpunkt auf a Muralha nach England geschickt hatte.
    Nein, sie konnte sich zwar eine Zeit lang verstecken, ihren Namen ablegen und andere Kleidung anziehen, doch ihre Geduld mit Männern wie den fidalgos von Praia Nova verlor sie recht schnell. Sie war sich sicher, dass die Nördliche Welt voll mit fidalgos war, egal, wie sie sich nannten. Der geflüsterte Gedanke, sich in der Dunkelheit dieser Stadt zu verstecken, ging ihr nicht aus dem Kopf.
    Schließlich kam sie zu einer Entscheidung. Es war besser, wieder zur Mauer zurückzukehren und sich in den schweigsamen senkrechten Königreichen, die auf die Nördliche Hemisphäre hinabblickten, zu verlieren, als sich hier zu verstecken und darauf zu warten, entdeckt oder verraten zu werden.
    Sie betrachtete das Ufer eine Zeit lang. Die Musik war gelegentlich zu hören, aber ihr Bann war gebrochen. Schließlich suchte Paolina nach dem Steward und fand ihn rauchend an Deck wieder.
    »Du bleiben«, sagte er, obwohl es sich für sie anhörte, als ob er ihr damit eine Frage stellen wollte.
    »Ja. Die Stadt …«
    Er lachte leise. »Ich dich kennen jetzt. Mädchen von Mauer, richtig?«
    Sie spürte, wie sie erstarrte. »Vielleicht.«
    »Keine großen Städte auf Mauer? Meine Mamma sagen, es geben Königreiche mit Heiligen und Märtyrern. Sterben für Messing-Christus.«
    »Nun, ich nehme an, dass es dort große Reiche gibt«, sagte Paolina. »Aber es gibt überall große Reiche.«
    »Stimmt.« Er schnippte die Zigarette von Bord. »Morgen kommen britische Offiziere an Bord. Verstecken? Andere Frau sein? Deine Wahl. Wenn Frau von Mauer, dann niemand helfen.«
    »Ich … ich würde es bevorzugen, jemand anders zu sein.« Sich weiterhin zu verstecken, war ihr zu viel. Sie hatte es gehasst, sich in Lachances Karren verstecken zu müssen. Außerdem hatte sie sich entschlossen weiterzumachen. Dann würde sie das auch tun.
    »Gut. Dann du stummes Mädchen, du Geschirr waschen für Steward. Schlechte Kleidung tragen, schmutzige Kleidung. Verstecken hinter ihm, so tun, als ob dein Mann. Du lieben, nichts sagen. Steward, er … leccaculo . Sieht nicht schöne Frau, capisce? Keine Frau lieben Mann wie ihn. Du lieben, weil Angst vor ihm. Kein Wort.«
    »Ich glaube, ich kann so tun, als ob ich Angst hätte«, sagte Paolina zu dem Steward.
    »Gut. Morgen früh, Passagierspeisesaal. Capisci? «
    »Passagierspeisesaal, morgen früh. Ja.« Sie widerstand dem Verlangen, ihm zu danken. Paolina wurde erneut klar, dass sie a Muralha niemals hätte verlassen dürfen.
    Am nächsten Morgen fand sie sich barfuß in einem abgetragenen Kleid im Passagierspeisesaal. Sie war vor Sonnenaufgang mehrfach das Deck auf- und abgelaufen und hatte sich an Schornsteinen und Entlüftungsschächten gerieben, um sich überzeugend mit Dreck und Ruß zu beschmieren.
    Der Stewart lächelte, sagte aber nichts. Sie verbrachten den Morgen schweigend mit der Arbeit und

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