Die Räder des Lebens
Nachmittag. Kräftiges, helles Licht fiel von oben in ihre Kabine und ließ den Ort an diesem Tag in goldenen Farbtönen schillern. Der Himmel tauchte alles in der Stadt in kupferfarbene Schatten, egal, wie verrostet und abgenutzt es auch war, und veredelte, worauf ihr Blick fiel. Selbst die Luft schien den leicht rauchigen Duft eines trockenen Rotweins angenommen zu haben.
Sie stand auf, reckte sich und trat erneut an das Bullauge heran. Es war immer noch laut in der Stadt, in der viel zu viele Menschen an einem zäh fließenden, schlammigen Fluss lebten, der viel nahm und, abgesehen vom lebenserhaltenden Wasser, nicht viel zurückgab.
Jede Stadt hatte ihre eigene Note gehabt – erst Straßburg, dann Marseille und Kalamata, jetzt Alexandria. In jeder Stadt brannten die ureigensten Feuer, wurde das typische Fleisch mit den typischen Gewürzen gebraten, die sich allesamt mit den Dampffahrzeugen und Electricitätswerken sowie unglaublich vielen Menschen und Tieren zu einem individuellen Gemisch verbanden. Sie sah zu, wie das schwindende Tageslicht alles gleichermaßen mit einem goldenen Schimmer überzog, ob glänzender Palast oder Unrat, und der Stadt zu herrlicher Pracht verhalf.
Sollte sie hinausgehen oder nicht? Paolina hasste es, dass der Zahlmeister und der Kapitän ihr Schicksal bestimmten. Sie hatte genügend Geld, aber sie konnte auch nicht mehr tun, als eine Überfahrt auf einem anderen Schiff zu buchen. Die einzigen Luftschiffe, die von hier aus gen Süden flogen, waren die der Royal Navy; da war sie sich sicher. Und sie ging nicht davon aus, dass es eine Eisenbahnstrecke durch Afrika gab. Es teilte sich zwar einen Ozean mit Europa und schmiegte sich in der Nördlichen Hemisphäre an seinen Nachbarn, aber von dem, was sie von der Notus aus erkannt hatte, hätte Afrika auch auf dem Mond sein können.
Die Star of Gambia hatte sie nicht verraten. Zumindest bis jetzt noch nicht. Sie spürte, dass die Menschen an Bord der britischen Krone keine besonders große Liebe entgegenbrachten. Der wahre Grund, Tyrus nicht anzulaufen, war unklar geblieben, aber es hatte hier im Hafen von Alexandria keine Durchsuchung des Schiffs gegeben.
Paolina beherrschte ihr eigenes Schicksal einfach dadurch, dass sie sich ruhig verhielt, aber es machte ihr zu schaffen, dass sie nichts tun konnte. Sie hatte in letzter Zeit häufiger daran gedacht, eine weitere Taschenuhr zu bauen, trotz der schreckenerregenden Erinnerung an das, was sie Straßburg angetan hatte. Es war die einzige Macht, die sie sich zu eigen machen konnte, der einzige Weg, wie sie verhindern konnte, einfach nur eine Frau zu sein.
Dem Schrecken aber hatte sie entsagt. Selbst das Gefühl von Macht war reine Illusion. Der Absturz des chinesischen Luftschiffs war für sie von großer Bedeutung, auch wenn er nur geschehen war, weil Kapitän Sayeed ihr falsche Tatsachen vorgespiegelt hatte. Also blieb sie einfach sitzen und sah zu, wie sich die Nacht auf die uralte Stadt senkte. Sie fragte sich, wann man ihr das Essen auftragen würde.
Der Steward brachte ihr später eine Schüssel mit Fischeintopf. »Freund«, sagte er und schien sich sehr zu freuen, sie zu sehen. »Hier warmes Essen ist und Entschuldigung, dass Speisesaal so geschlossen sein.«
»Wo sind die anderen Passagiere?«
Er stellte die Schüssel ab, zog eine Serviette aus seiner Schürze hervor und zuckte mit den Achseln. »Eben noch viel Unruhe an Hafen. Mannschaft ruhig bleiben.« Er legte einen Löffel, eine kleine Butterdose und ein rundes, dünnes und leicht aufgetriebenes Brot aus. »Jetzt essen und Geduld üben.«
»Wissen Sie, wann wir wieder in See stechen werden?«
Ein erneutes Achselzucken. »Ich bringe Essen, nicht Befehle von Brücke.« Er verbeugte sich und ließ sie mit dem dampfenden, offensichtlich kräftig gewürzten Eintopf allein.
Paolina ließ sich davon nicht abhalten. Selbst in den besten Tagen hatte es in Praia Nova für die Frauen und Mädchen nie genug zu essen gegeben, wenn die Männer ihre Kräfte brauchten. Was immer sie zu essen bekam, war als himmlisches Geschenk zu verstehen. Später traute sie sich noch an die Reling. In der Dunkelheit war sie für Leute, die am Hafen an ihr vorbeigingen, kaum zu erkennen. Sollte jemand das Schiff beobachten, dann wüsste er ohnehin schon, dass sie an Bord war – er müsste nur auf den Steward achten.
Alexandria hatte schon tagsüber chaotisch und überwältigend auf sie gewirkt, aber bei Nacht war es noch schlimmer. Ganze Viertel
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