Die Räder des Lebens
schillerte es blau, grau und weiß, war an einigen Stellen durchsichtig und nahm alle Farben an, die bei Eis und Schnee möglich waren. Es war auch gar nicht so kalt, wie Childress geglaubt hatte. Sie war allerdings auch davon überzeugt, dass ihr Leben ein schmerzhaftes und schnelles Ende nähme, wäre sie hier dem schneidenden Wind und den eiskalten Schatten der Nacht schutzlos ausgesetzt.
Sie verließen das Schiff für nur knapp zehn Minuten. Sie berührte das Eis zuerst mit ihren behandschuhten Fingern, dann mit bloßen Händen, und dann kratzte sie genügend Material für einen eigenen Schneeball zusammen. Die Five Lucky Winds erhob sich aus dem Eis neben ihr und wirkte wie eine Kreatur, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand.
Im Bootsinneren war das Schnaufen eines Überdruckventils zu hören, das Leungs Aufmerksamkeit erregte. »An Bord mit Ihnen.«
Childress deutete nach oben. »Können Sie hier oben Gott verneinen?«
»Ich verneine nichts. Ich stelle lediglich fest, dass Sie die falsche Frage stellen.«
Sie setzten ihren Weg unter dem Eis wie gehabt fort und tauchten noch dreimal auf. Childress war dankbar für jede Gelegenheit, an der frischen Luft spazieren gehen zu können. Unter dem Eis konnte sie nur dem knarzenden Rumpf lauschen und zusehen, wie sich die Kälte als Kondenswasser auf den Wänden niederschlug. Jedes Mal, wenn sie wieder in die beengten Räumlichkeiten des Unterseeboots zurückkehren musste, fühlte es sich für so an, als ob sie in ihren eigenen Sarg hinabstiege.
Die wenigen Stunden mit Leung waren eine willkommene Abwechslung. Das tägliche Leben in einem beengten Gefängnis, dessen Mauern nicht nur aus Eisen und Wasser, sondern auch aus sprachlichen Barrieren bestanden, zehrte langsam, aber sicher an ihr. Hier gab es wenig, was sie sich einprägen oder an das sie sich erinnern konnte – vermutlich die schlimmste Bestrafung von allen.
Und dann, eines Tages, konnte sie selbst von ihrer Kajüte aus spüren, dass die Five Lucky Winds zum letzten Mal wieder aufgetaucht war.
Childress holte ihre Karte der Arktis hervor. Sie hatten den Pazifischen Ozean beinahe erreicht. Sie mussten irgendwo in der Beringstraße sein.
Dass so etwas möglich war, verblüffte sie. Dass sie es selbst miterleben durfte, verblüffte sie umso mehr.
Sieben
Paolina
Sie träumte von Frauen, die wie Blumen aus dem Himmel fielen. Mit ihnen drehten sich auch ihre Röcke und hinterließen einen bunten Sprühregen, ähnlich dem Blütenstaub. Paolina schreckte auf, als Boas sie hinlegte, und wurde sich bewusst, dass sie gefallen waren. Frauen, Menschen, Messing – Leute. Alle fielen die endlosen Stufen hinab und zerschellten auf den Felsen unter ihnen.
Als das Drehen in ihrem Kopf aufhörte, sah sie, dass sie nicht mehr auf der furchtbaren Treppe waren.
»Tu das niemals –« Boas bedeutete ihr zu schweigen. Er hatte sich hingekauert und sah vorsichtig über einige Felsen hinweg. Das kalte, harte Gestein der Mauer erhob sich über ihnen, aber ihr Rücken lehnte an einer massiven Oberfläche. Es gab keinen Weg.
Schweigend, aber innerlich kochend, nahm sie ihren Platz direkt neben Boas ein. Ihr Körper fühlte sich furchtbar steif an. Er hatte sie stundenlang wie einen Mehlsack getragen.
Eine Gesteinslawine hatte an diesem Ort eine Art Felsvorsprung angehäuft, auf dessen vorderstem Stück sie nun standen. Die Leute, die wie Ameisen von Ophir hinabgeströmt waren, betraten in Reih und Glied eine Lichtung zwischen Bäumen mit hell glänzenden Blättern. Nachdem sie ihre Fracht abgeladen hatten, gingen sie nach und nach weg.
»Was geschieht hier?«, flüsterte sie. Die Erkenntnis, dass diese Leute die lange Strecke hinter sich gebracht hatten, ohne auch nur ein Wort zu sagen, jagte ihr Angst ein.
»Sie arbeiten im Auftrag eines Siegels.« Boas sprach genauso leise. »Das war die größte Macht, die der erste Messing mit nach Ophir brachte. Er hat einige der Siegel Salomons behalten, als die ursprüngliche Expedition nach Ezion-Geber zurückkehrte. Die Siegel stellen die größte Macht im Salomonischen Königreich von Ophir dar.«
»Ein Zauberspruch? Ein Zwang?«
»Ja.«
Sie dachte darüber nach. »Dein Wort, das Ding, das du nicht aussprechen kannst, es muss mit den Siegeln zu tun haben.«
»Ich … Ich … weiß es nicht.«
»Anders ausgedrückt: Du kannst es nicht aussprechen.«
Boas neigte seinen Kopf zur Seite und starrte sie an. Sein Gesicht wirkte so teilnahmslos und metallen wie
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