Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Ring der Militärschulevon Missouri. Die Finger krümmten sich, als wären sie im Begriff, ein Stück Zucker auszuwählen und zu ergreifen. Dann senkte sich die Hand auf die Lokomotive des Golden State herunter.
Glockenklar klang die Stimme von Mr Applegate in meinen Ohren: Der Alte lässt Cyril nicht einmal in den Raum mit seinen Zügen! Um keinen Preis! Cyril würde sofort versuchen, einen Zugzusammenstoß herbeizuführen. Cyril ist ein echter Rabauke.
Natürlich wusste ich, dass Leutnant Cyril Pettishanks vom Rekrutierungsbüro der US-Armee ebenso wie ich Miss Chow Spring! hatte rufen hören. Der Keller mit der Crawford’schen Modelleisenbahn hatte keinen anderen Ausgang als das Treppenhaus und den Lift. In dem Raum gab es keinen Schlupfwinkel, wo man sich verbergen konnte. Ich lugte einen Fingerbreit aus meinem Versteck hervor. Wie erwartet sah ich Cyrils riesengroßes Gesicht über mir. Er blinzelte ein paarmal und heftete dann seine Augen auf die Anlage vor sich. Ich konnte jeden Faden im Gewebe seiner Uniformjacke, jede Pore und jeden Bartstoppel an seinem Kinn sehen. Cyril war so groß, dass ich in seine Jackentasche gepasst hätte.
Ich schlüpfte hinter einen Würstchenstand und hielt den Atem an. Die große behaarte Hand, die aus dem großen Ärmel ragte, griff nach dem Zug. Cyril hob die Lokomotive des Golden State hoch, dann riss er den ganzen, zehn Waggons umfassenden Zug von den Schienen – Personenwagen, Kohlenwagen und Bremswagen. Cyril schüttelte jeden Waggon wie eine Zuckerdose, als dächte er, ich sei in einem davon. Jedes Mal fluchte er genervt, während ich, hinter dem Würstchenstand verborgen, zusah und kaum zu atmen wagte. Cyril schleuderte einen Waggon nach dem anderen auf den Betonboden des Kellers hinunter. Lokomotive, Speisewagen und Schlafwagen brachen zu seinen Füßen entzwei. »Komm aus diesem verdammten Zug heraus, Ogilvie!«, brüllte Cyril, während er jedem Waggon mit einem Fußtritt den Rest gab. Der Raum löste sich im dichter werdenden Nebel auf und ich konnte gerade noch die Stimme von Korporal Handschelle vernehmen. Er musste hinter Cyril die Treppe hinuntergestürzt sein. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hörte laut und deutlich seine weinerliche Stimme. »Heiliger Jesus! Was ist in Sie gefahren? Der Junge ist doch in keinem derZüge. Er ist in den Lift entwischt. Schnappen wir ihn!«
Cyril fluchte, aber er drehte sich zu seinem Korporal um. Mit kreischenden Bremsen war ein anderer Zug um die Kurve gebogen und fuhr in den Bahnhof ein. Der Zug hielt nicht an. Es kümmerte mich nicht, was für einer es war oder welchem Ziel er zustrebte. Ich sprang auf den fahrenden Zug auf und verkroch mich in die sicheren Tiefen seines Inneren.
»Verschwinde!«, sagte ich zwischen meinen Zähnen zu der Welt von 1941 draußen. Es war mir egal, ob der Zug nach Timbuktu unterwegs war. Ich fand ein Bett in einem der bezugsfertigen Schlafwagen, als der Zug gerade den Bahnhof verließ.
Lange Zeit wagte ich nicht, mich zu bewegen. Als ich schließlich aus dem Fenster meiner Koje schaute, hätte die vorbeisausende Landschaft überall sein können. In was für einem Zug war ich? Dem Union Pacific? Wohin fuhr er? Nach Texas? Oder Louisiana?
Kein munterer College-Student platzte mitten in der Nacht ins Abteil und fing an zu singen: »Mein Hut, der hat drei Ecken«. Von Stunde zu Stunde vermisste ich Dutch mehr. Ich wünschte, er wärehier und wir würden Steak und Eiscreme zusammen essen. Und ich vermisste meinen Dad. Wusste er, dass ich es diesmal geschafft hatte? Freute er sich, weil er wusste, dass ich ihn nach Cairo zurückholen und er wieder jung sein würde?
Der Pfiff des Zuges schrillte über die Ebene, die die Wüste zu sein schien, und wir begannen unseren langsamen Anstieg in die Berge. Nach Osten! , sagte ich mir. Wenigstens fahren wir nach Osten.
Im Zug war es ungewöhnlich still. Kein Schaffner hatte den nächsten Halt ausgerufen oder die Fahrgäste aufgefordert, im Speisewagen Platz zu nehmen. Was für eine Eisenbahngesellschaft betrieb diese Linie? Atchinson, Topeka? Canadian Pacific? Mein Kopf schmerzte und dröhnte so sehr, dass ich nichts als meine Augen schließen und schlafen konnte.
Im Traum erschien mir Joan Crawford: Das rabenschwarze Haar wogend vor Zorn, die Lippen zu einem durchdringenden Schrei geöffnet, packte sie Leutnant Cyril Pettishanks am Kragen seiner Uniformjacke und schmetterte ihm eine ihrer geschliffenen Glaskaraffen an den Kopf, weil er die
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