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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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einskommasechs Millionen Tonnen Gesamtgewicht umrechnen kann. Stellt euch mal diese Biomasse singend vor, und wir könnten mit unserem Mikrophon...«
Noch lange nach Mitternacht versuchen die Frauen, sich Medusengesang bei solch kompakter Quallendichte vorzustellen. Damroka zieht Vergleiche mit liturgischen Gesängen. »Gregorianik«, sagt sie und »bis zu Palestrina«.
Die Alte ruft »Alles Quatsch, eure Erklärsucht!« und trinkt vom Fusel auf das unerklärliche Phänomen.
Wer hat »kosmische Einwirkungen« gesagt? Die Maschinistin, die Steuermännin?
Alle reden durcheinander. So hab ich sie gern: aufgeregt flirrend verhext, so gute wie böse Feen. Ihre heftigen oder weitschweifigen Gesten. Ihr Lächeln, das nicht mehr sachlich sein will. Verzaubert singen sie, während das Tonband läuft, nach Art der Medusen, endlich einträchtig: im Gesang. Nie wäre es mir gelungen, ihre Stimmen so harmonisch zu flechten...
Wie sie doch noch für einige Stunden in ihre Hängematten finden, sagt Damroka, die mit frischgebrühtem Kaffee das Steuer übernimmt: »Anfangs dachte ich, Mensch, das ist ja Suscepit Israel aus dem Magnificat, aber jetzt könnt ich wetten: die Quallen sind Zwölftöner.«
Der Rest der Nacht gehört dem Diesel.
Sobald aber, mit Sonnenaufgang, wieder der Singsang der Ohrenquallen über der See liegt, machen die Frauen, nach kurzem Schlaf, keine fahrthemmenden Meßfänge mehr, sondern lassen Tonband nach Tonband laufen, indem sie das nun leisere Singen der verdünnten Quallenschwärme aufzeichnen und gleichzeitig Altbespielungen löschen: nicht nur Bachkantaten und Orgelpräludien, auch Joan Baez, Bob Dylan, wem sie sonst noch, älter werdend, zugehört hatten.
Die Meereskundlerin liest Zahlen vom Zählwerk des Tonbandgerätes ab und trägt sie der Seekarte ein. Sie haben das Flachwasser der Mittelbank hinter sich und überlaufen jetzt, nordöstlich Bornholm, Tiefen um hundert Meter. Dennoch bleibt dünngewoben ein Stimmengespinst über der See und hilft, bis zum späten Nachmittag gute Fahrt zu machen.
Erst gegen Abend, sobald sie nordwestlich der Oderbank wieder Flachwasser überlaufen, dann mit dem Glas, schließlich mit bloßem Auge Rügen, Kap Arkona, Stubbenkammer, die Kreidefelsen erkennen, schwillt der Gesang an und mindert die Fahrt; auf Höhe der Greifswalder Oie werden sie von einem Boot der DDR-Grenzpolizei gestoppt.
Vielchöriger Medusengesang liegt über dem Tuckern der gedrosselten Schiffsmotoren. Drei Mann kommen uniformiert an Bord. Damroka legt die gestempelten Papiere vor. Die Grenzpolizisten sind höflich, gründlich. Offenbar vorbereitet auf das Aufkreuzen des Forschungsschiffes in den Gewässern der Deutschen Demokratischen Republik, durchsuchen sie das Schiff. Kommentarlos werden Hängematten gezählt. Mit Wohlwollen nehmen sie Einblick in Meßunterlagen. Sie finden an Schautafeln und statistischen Erhebungen Gefallen; doch wie sie von der Meereskundlerin übereifrig auf den Medusengesang angesprochen werden, ergreift immer bereites Mißtrauen die Grenzpolizisten. Schroff verneinen sie: Ihnen komme kein Gesang zu Gehör. Die Quallenvorkommen seien durchaus normal. Übrigens wisse jeder, jedenfalls in der DDR, daß Quallen nicht singen können.
Dank deutlichem Anstoß gelingt es der Maschinistin, die Meereskundlerin von einer Demonstration des Medusengesanges mit Hilfe der Tonbänder abzuhalten. Damroka beschwichtigt dienstliches Mißtrauen: »Sie wissen ja, meine Herren, wir Frauen hören manchmal die Flöhe husten.«
Die Polizisten danken der Kapitänin mit Gelächter. Sogar ein Männerwitz wird gewagt: »Können die Damen auch schwimmen?« Doch den Fusel, den die Alte in halbvollen Wassergläsern anbietet, lehnen sie mit gesamtdeutscher Redensart ab, Dienst habe Dienst, Schnaps Schnaps zu bleiben. Sie wünschen »Gute Fahrt und ein ruhiges Wochenende«.
Wie das Grenzboot ablegt, ruft einer der Polizisten von Bord zu Bord: »Wir machen ne Erfolgsmeldung draus, Mädels: DDR-Quallen können singen!« Als wollten die Medusen diesen Fortschritt bestätigen, schwillt ihr Gesang an, während die Schiffe Abstand nehmen.
Ich will nun behaupten, daß dieses den Grenzpolizisten unhörbare Singen einzig den Frauen und ihrem Reiseziel gilt; denn wie sie mit halber Fahrt südlichen Kurs auf die der Festlandküste vorgelagerte Insel Usedom nehmen, gewinnt das Chorsingen der Medusen nicht nur Volumen, sondern Ausdruck sogar, der sich steigert, als solle ein Hosianna angestimmt werden. Es sind

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