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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Tagtraum schmerzte. Ohne Geduld verdrängten Bilder einander. Ich wollte Liebliches, einen harmonischen Reigen träumen-das lustige Hinundher-doch auf Vinetas städtischem Pflaster huschten einzig Ratten durch die Gassen, in alle, aus allen Kirchen, gegenläufig gerottet, über die Brücken... Da rief eine der Frauen aus wundem Mundloch: Sie sind verhext. Man hat sie mit Zauber belegt. Ein Spruch liegt böse auf ihnen, den müssen wir lösen.
Das hat der Butt getan! rief ein anderer Mund.
Der Butt muß kommen, helfen, die Frauen lossprechen! Butt! riefen sie, höre uns rufen. Bis zum Ermatten verlangten die Frauen von dem vielvermögenden Plattfisch, er solle sein Versprechen einlösen, Vineta rattenfrei und wieder zur Frauenstadt machen.
Aber es half, sprach und löste kein Butt. Nicht nur ohne Quallen, ganz und gar leblos, bis auf das gasselaufende Gezücht, lag die See unter leerem Himmel, der sich von Ost und West her mit in sich wühlendem Qualm überzog.
Stimmt es, fragte ich die mühsam lebende Anna Koljaiczek, daß nur noch Ratten sind, überall, sogar in Vineta, dessen Tore den Frauen offen sein sollten, wie es der Butt vor Møns Kreidefelsen, dann immer wieder, sooft er gerufen wurde, versprochen hat?
Da sagte Anna Koljaiczek, die eigentlich schweigen und sterben wollte: Da is kain Butt nech. Ond kaine Märchen mehr. Och midde Menscher is aus. Ond was ham se jerafft ond jewietet. Ond immä war Schlächtichkait. Na nu is nuscht, alles hopsgegangen, weil Liebgottchen jestraft hat. Ach, mecht doch ausjebarmt sain!
Doch selbst wenn ich schreiben sollte, tot ist sie, tot, könnte sie dennoch nicht sterben; wie ich nicht aufhören konnte, die Erde Mal um Mal zu umkreisen.
Mariaondjosef! rief Anna Koljaiczek, ieberall isses aus. Antworten! rief der Mann im kosmischen Lehnstuhl. Ist denn, verdammt alles im Eimer? Ihr könnt doch nicht alle verschütt sein...
Nun auch kein wundes Mundloch mehr. Die Frauen verröchelten. Mein Wille konnte sie nicht halten. Kein weiterer Aufschub fiel mir zu ihrem Ende ein. Erst jetzt oder abermals
driftete das Wrack der Ilsebill unter rauchschwarzem Himmel in die offene See.
Noch immer leise Anna Koljaiczek: Ach Gottchen, ach Gottchen. Ach, mecht doch baldich zuend sain...
Und mich hörte ich jammern: Was haben wir nur getan? Was trieb uns in diesen Schluß? Keine Frauen, kein Butt, keine Märchen mehr, weil auch der Wald, der bis zuletzt nach Rettung schrie, Rauch wurde...
Als wollte sie mich trösten, sagte die Rättin: Aber es gibt ja uns. Und schon lange hat sich der Qualm gelegt. Gerecht haben Stürme alle Asche verteilt, damit der strahlende Segen allem Leben zuteil wurde. Lange Zeit mußte die Erde sich drehen, ohne vom Licht gewärmt zu werden. Selbst wir waren nach Kälte und Finsternis anfangs nur wenige. Doch bald nahm nicht nur unsereins zu, überall regte es sich: in Wasserlöchern und Flüssen, im Flachwasser der See. Die alten Arten in neuer Gestalt und nie gesehene Arten, die selbst uns überraschten. Sei guten Mutes, Freund! Leben wird wieder Umsichgreifen. Erneuern wird sich die alte Erde. Und neue Märchen, in denen die alten wundersam überleben, werden von Wurf zu Wurf erzählt werden.
    Weil alles geklappt, die Spindel, bis Blut kam, Dornröschen gestochen und ringsum Zauber freigesetzt hat, worauf der Kanzler und seine Minister, alle Experten und Polizisten, die Fernsehfritzen sogar und fixen Zeitungsschreiber mit ihrem zuletzt gekritzelten Wort in tiefen Dornröschenschlaf gefallen sind, laufen nun, kaum ist die Dornenhecke fertig und dicht, alle Märchengestalten fort: vom Tatort im toten Wald und dem steingehauenen Denkmal weg in den heilen Wald, bis sie zu ihrer Pension, dem Knusperhäuschen finden, wo einzig Rotkäppchens Großmutter beim Wolf geblieben ist.
Hänsel und Gretel halten die Grimmbrüder bei der Hand. Auf seinem einen Bein hüpft Rumpelstilzchen voran. Im alten Ford fahren die Böse Stiefmutter, die den Zauberspiegel hält und auf dem Rücksitz Schneewittchen mit den fummelsüchtigen Zwergen; des Mädchens abgehauene Hände halten das Steuerrad.
Mit ihrem Haar lockt Rapunzel den weinenden Prinzen, der sich immer wieder umdreht und einen Kußmund macht, als habe er nur eines im Sinn, als könne er das nur und anderes nicht, als sei ihm diese Pflicht aufgetragen, dieser Zwang eingefleischt, als müsse er immerfort, so fern es schläft, sein Dornröschen wachküssen. Er zögert, steht, entspringt dem Rapunzelhaar, will zur Dornenhecke, sie mit

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