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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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den hundertunddreißig gekreuzigten Ratten auf dem Bischofsberg jeweils zwei aufrecht jammernde Ratten zur Seite gestellt. Es handelt sich um Schwemmholz aus der Hochwasserzeit, sagte die Rättin erklärend. Und Nägel, vom zölligen Nagel bis zu Stahlstiften, finden sich überall.
So bildhaft auf eine Kuppe gestellt standen die Kreuze gereiht, daß sich der Hintergrund, die rußgeschwärzten Türme und Türmchen der geschonten Stadt, wie selbstverständlich ergab, dahinter die See, doch fehlten bis zum Horizont Schiffe. Ein wirksames Exempel! Nicht nur sind wir wieder einig seitdem, auch haben wir endlich begonnen, jene Schutzhäute vom Mauerwerk zu lösen, mit denen das Menschengeschlecht kurz vorm Großen Knall alle der Schonung zugeordneten Baudenkmäler beschichtet hatte. Wie klug, daß sie zum Schluß noch ihrer Kultur gedachten.
Als wollte sie mich von den gekreuzigten Ratten ablenken, blendete sie städtische Szenen ein und kommentierte die neue Betriebsamkeit: Übrigens scheint das Ablösen der Schutzhäute besonders den protestantischen Großsippen Spaß zu bereiten, Emsig sind sie, als wollten sie Buße tun. Vielleicht ist es aber auch bloße Deutschstämmigkeit, die ihren Fleiß fördert. Schau nur, wie systematisch sie das Mauerwerk freilegen. Sie arbeiten in Schichten. Außerdem ist es ihnen gelungen, diese ekligen rußschwarzen Würmer, die wir du erinnerst dich ungenießbar nennen, in Dienst zu nehmen. Jedenfalls ist der Turm der Marienkirche bis zur Hälfte wiederum backsteinrot, desgleichen der herrliche Ziergiebel von Sankt Trinitatis. Schau nur, wie gut sich das Ziegelwerk unter der Beschichtung gehalten hat.
Und ich sah. Ungezählte Ratten pellten Mauern ab, tilgten, von daumenlangen Rußwürmern unterstützt, Ruß, den die Staubstürme mit sich gebracht hatten. Sogar an Profanbauten sah ich protestantische Ratten Buße tun: Sie säuberten das Grüne Tor zur Mottlau und zum Langen Markt hin, die Artushoffassade und das Rathaus, dessen schlanker Turm ihnen bis zur Spitze, die ein vergoldeter polnischer König krönt, begehbar war.
Er glänzt wieder! Ist das nicht schön? rief die Rättin. Lohnt es nicht wieder zu leben? So ist das Opfer auf dem Bischofsberg, sagen wir uns, nicht umsonst gewesen. Wir Ratten sind wieder einig im Glauben. Gemeinsam verehren wir den letzten atmenden Menschen in seinem Lehnstuhl, der wie unsereins Kraft im Gebet sucht: immerfort betet die Uralte ihrem Rosenkranz nach. Wir hören sie flüstern: Du schmerzensreiche, gebenedeite...
Und ich! schrie ich. Zu wem soll ich flehentlich? Wie soll ich in meiner Raumkapsel ausharren, wenn nur noch das Wrack treibt und es keine Damroka mehr gibt...
Die du für uns gelitten hast... Ungerührt sprach die Rättin Anna Koljaiczek nach, bis sie mir betend verging.
    D ASNEUNTEKAPITEL, indem die Frauen noch
einmalaufleben, das Land ohne Regierung ist, nagend Hunger herrscht,zweiMumien samt Zubehör überführt werden, worauf der Ackerbau beginnt, Ratte, Vogelund Sonnenblume ein Bild ergeben, die Menschen nur noch als ob sind, es überallsprießt, treibt und rankt,schon wieder Oskar dazwischenredet und nach der erstenLautverschiebung das Erntedankfest gefeiert wird.
    Eigentlich sollte ich vom Maler Malskat erzählen, indem ich ohne Vorgriffe seinem Fleiß folge dann malte er das vierte, dann das fünfte Joch aus -, aber sobald ich im Innengerüst der Lübecker Marienkirche hoch hinauf ins Chorgewölbe zu klettern beginne naßkalt, zugig ist es hier oben -, holt mich Gegenwart von den Gerüstbrettern: Wen kümmern die falschen Fuffziger, wenn augenblicklich der Wald verreckt und mit ihm die Märchen draufgehen; was jucken uns Nachkriegsjahre in Vorkriegszeiten, wenn meine Tagund Nachtträume ins Orwelljahr fallen. Außerdem will Anna Koljaiczek sterben, aber sie kann nicht. Als Wrack treibt »Die Neue Ilsebill« in die offene See. Lauter Geschichten, die ihr Ende suchen, während Malskats Geschichte immer aufs neue beginnen will, als könne es Spaß bereiten, den alten Adenauer, den Spitzbart Ulbricht auszubuddeln und auf Podeste zu stellen, nur weil beide Staatsgründer den sakralen Trugbildern des Malers ihre Doppelfälschung beigesteuert haben, mit der sich das sagte vor seiner Polenreise unser Herr Matzerath ganz gut, bis jetzt ganz gut leben ließ.
Doch was heißt jetzt? Die Rättin, von der mir träumt, sagt: Jetzt haben wir endlich allen Streit hinter uns. Einstimmig beten die Rattenvölker in der geräumigen Marienkirche den

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