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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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zum Beispiel im Fluß Weser jämmerlich zu ersaufen.
Das war noch zur Hausrattenzeit. Lieberchen, sagte die Rättin zu mir, wie sie neuerdings Herr oder Herrchen sagt. Ihre neue Sprechweise macht mir ihr Rattenwelsch vertrauter, weil dem üblichen Gezischel nun die Spitzen gekappt sind und sie sich ländlich breit ausspricht. Lieberchen, sagte sie, von Hameln und so weiter reden wir später. Nichts stimmt an dieser Legende. Aber richtig ist, daß uns Ratten ein hoher, von keinem Menschenohr jemals gehörter und keinem Instrument, ob Flöte oder Fiedel, möglicher Ton gelingt, der über weite Distanz Nachrichten trägt und dessen Sequenzen übrigens Forscher während der ausgehenden Humanzeit mit Hilfe von Ultraschall ausgemessen haben, und zwar in Boston, USADie Rättin prahlte ein wenig: Unser Infosystem! Dann sagte sie: Es ließe sich aber auch wenn du willst, Herrchen unser Tönen mit jenem Singsang vergleichen, den deine Frauen sie sagte Weibsbilder als Gesang der Ohrenquallen gehört haben wollen, als sie mit ihrem Schiff eine versunkene Stadt suchten. Zwar sprachen sie von Medusengesang, doch war auch von einem musikalischen Papst als Vorbild für das Quallensingen die Rede. Deshalb könnten unsere Töne, wollte man sie ins Hörbare transponieren, an gregorianischen Gesang erinnern, zumal des Menschengeschlechts sakrale Musik uns immer schon lieb gewesen ist.
Mir war, als hörte ich schwellendes Psalmodieren, während die Rättin auf mich einsprach: Schon während der frühchristlichen Zeit sangen wir mit ihnen ohne daß sie uns hörten — in ihren Fluchtbauten, den Katakomben. Mit ihnen haben wir unser Kyrie entwickelt. Mit ihnen waren wir fromm. Und mit ihnen wurden wir jahrhundertelang geschmäht und verfolgt. Wäre es doch bei diesem Gleichklang geblieben: wir auf sie, sie auf uns eingestimmt. Ach, ihre einstudierten Chöre! Ach, ihre Mehrstimmigkeit. Mit besonderer Inbrunst sangen bis vor dem Knall die hier ansässigen Polen; weshalb unser Singen, das immer häufiger die Hauptkirche Sankt Marien bis hoch ins Gewölbe füllt, nicht frei ist von einer gewissen, dem Volk der Polen nachgesagten Leidenschaft.
Neinnein, Herrchen! Kein Grund besteht, nationalistische Untertöne zu befürchten. Zwar wissen wir immer noch, daß Ratte auf polnisch Szczur hieß und scherzhaft rufen wir einander auch so oder zärtlicher: Szczurzyca-, doch sind wir natürlich keine polnischen Ratten. Die gab und gibt es so wenig, wie es portugiesische oder ungarische Ratten gegeben hat oder posthuman gibt; wenngleich uns der Mensch, seinem Zwang folgend, alles benennen zu müssen — niemand kann sagen warum -, Rattus norvegicus genannt hat. Aber ein bißchen polnisch sind wir dennoch, in dieser Gegend gewiß. Zum Beispiel ist unsere Vorliebe für das Süßsaure und das Gekümmelte auf den hier früher vorherrschenden Geschmack zurückzuführen, weshalb wir, neben den Hauptfeldfrüchten, mit gutem Erfolg Gurken, Kürbisse und Kümmel anbauen; auch dafür fanden sich Samentütchen in unseren Fluchtbauten. Wir legen Schimmelund Pilzkulturen an. Indem wir zarte Fäulnis beigeben, stellt sich Süßsaures her. Auch charakterlich sind wir polnisch geprägt. Im Gegensatz zu den aus dem Westen eingewanderten, nein, genauer, umgesiedelten Rattenvölkern, die immer in alles System zu bringen versuchen, leben wir sorgloser, doch nicht ohne bohrenden, manche sagen, verbohrten Ernst. Wir erhoffen uns was. Unsere Gebete sind mit Sehnsüchten überladen. Etwas Höheres, das nicht, noch nicht zu haben ist die Polen haben es dazumal Freiheit genannt -, schwebt uns wie greifbar vor...
Unsinn ist das! Vernunftwidrig! Die Rättin fiel sich ins Wort. Natürlich gibt es keine polnischen und deutschen Ratten. Dafür sind die Unterschiede zu gering. Nur an der Oberfläche unseres rattigen Wesens sind wir gelegentlich gegensätzlich, wie während der Hungerzeit, als wir uns in Glaubenssachen verbissen hatten. Sicher: sie sind verwöhnt und zählen gerne auf, was alles sie im reichen Westen gehabt und verloren haben. Sie bedauern uns und loben unsere Bescheidenheit zu laut und zu oft. Ihre Ruhelosigkeit kennt keine Pause. Auch ist ihnen ein Hang zum Besserwissen nicht abzugewöhnen; aber manches, zum Beispiel, wie man die Lagerung von Saatgut organisieren könnte, wissen sie besser. Da ihnen Freiheit nicht allzu wichtig ist, sind sie ordentlicher als wir, auf manchmal tickhafte Weise. Daß sie begonnen haben, im Hafengelände fachkundiges Interesse an den

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