Die Rättin
Hauptaltar, auf dem, wie ich aus früheren Träumen wußte, ledern geschrumpft, doch immer noch kenntlich, Anna Koljaiczek und ihr zu Füßen, von brüchigen Röcken umwölkt, ihr Enkelsohn Oskar anbetungswürdig waren, bewegten sich die Rattenvölker, indem sie gesungenem Rhythmus gehorchten. Ein einziges Rattenvolk richtete sich auf. Jede Ratte erhob sich in jeder. Sie standen auf den Hinterbeinen, hielten die Rattenschnauzen mit vibrierendem Witterhaar hoch gegen das Gewölbe, hatten aber ihre Vorderbeine nicht zum Gebet verschränkt, streckten vielmehr feingegliederte Krallenhändchen, wie von einem Sehnen ergriffen, indes sich ihr mehrchöriger Gesang gleichfalls ins Sehnsüchtige verlor. Selbst ihre Schwänze standen aufrecht, fädelten sich himmelwärts. Dann gingen sie wieder vierbeinig zu Boden und zeigten, die dreischiffige Halle lang, runde Rattenbuckel. Die Schwänze hatten sie allesamt untergeschlagen. Demut übten sie, um sich abermals als vieltausendköpfiges Rattenvolk aufzurichten, mit flehentlich sehnender Gebärde.
Und wie ich sie flehen und beten sah die alten erdgrünen Ratten zuhinterst, die jungen noch zinkgrünen zum Altar hin -, kam es mir vor, als beteten sie nicht mehr auf katholische Weise, sondern mit heidnischem Hintersinn; wie jene Feldfrüchte, die als Opfergaben auf dem Altar gehäuft lagen, alle Devotionalien, etwa Anna Koljaiczeks Rosenkranz und den schmiedeeisernen Schriftzug überlagerten. Einzig die Schlümpfe und Golddukaten waren noch kenntlich. Außer dem Üblichen diesmal Gurken und Kürbisse. Dennoch herrschten Sonnenblumen vor. Und auch das hängende Kreuz überm Altar war von schwellenden Fruchtkörben dergestalt überwuchert, daß der genagelte Menschensohn nur noch geahnt werden konnte.
Nein! schrie ich. Das könnt ihr nicht machen! Heidnisch ist das, Götzendienst, Lästerung...
Die Rättin flüsterte: Still, Herrchen. Siehst du nicht, wie flehentlich sie die Sonne beschwören...
Aber ich bitte dich, Rättin, wollt ihr nicht wieder christlich und wenn nicht christlich, dann wenigstens wieder katholisch werden...
Eure Hallenkirchen, sagte sie, sind für vielerlei Glauben bestimmt und wie geschaffen für uns...
Aber ich will das nicht! rief ich. Nicht mehr hören kann ich dieses Jammern und Jeimern. Glauben war nie meine Stärke. Auf eure Hoffnungen pfeif ich. Außerdem dürfte es unserem Herrn Matzerath schwerfallen, als Winzling und luftgedörrt euch Rattenvölkern Altarschmuck zu sein, wo er doch heimgekehrt, vor wenigen Tagen leibhaftig aus Polen zurück ist. Die Reise hat ihm zugesetzt, das Wiedersehen, der Abschied. Zu großer Druck, der nicht abfließen will, macht ihm zu schaffen. Seitdem muß er einen Dauerkatheter tragen Lästig ist das, ihm peinlich. Doch will ihn seine Großmutter, sobald er demnächst sechzig wird, besuchen. Hörst du, Rättin, sie will ihren Oskar leibhaftig besuchen...
Jaja, sagte sie noch immer denkst du dir deine Geschichte fortgesetzt aus.
Und dann, und dann?
Dann kam die Währungsreform.
Und danach, was kam danach?
Was vorher fehlte, kam wunderbar Stück für Stück das meiste auf Raten.
Und wie ging es weiter, als alles da war? Wir schafften uns Kinder und Zubehör an Und die Kinder, was machten die Kinder dann? Fragen stellten sie dumm, was davor gewesen und dann und danach war.
Und? Habt ihr ausgepackt alles?
Wir erinnerten uns
an das Badewetter im Sommer neununddreißig. An was noch?
Schlimme Zeiten danach.
Und dann und danach?
Dann kam die Währungsreform.
DAS Z EHNTE KAPITEL,indembeimFestaktein
Gewitter niedergeht, unserHerr Matzerath sich behauptet, die Rättin dem treibenden Wrack Geheimnisse nachsagt, der Prinz davonläuft, Neues aus Hamelnberichtet wird, die Ratten dichtgedrängt voller Erwartung sind, keine Post Nachricht aus Travemünde bringt, doch zu Beginn des neuenZeitalters die Glocken läuten.
Es ist meine See, an die viele Länder ufern, vom östlichen Reval und Riga der baltischen Länder bis in ihre westlichen Bodden und Buchten, mit den Marienkirchen in Lübeck, Stralsund und Danzig, dem Dom zu Schwerin und Schleswig, desgleichen mit der Johanneskirche in Stege auf Møn und der gekalkten Kirche in Elmelunde, in vielen Städten Dänemarks, dann lang den schonischen Stränden, der schwedischen Schärenküste, in Ystad und Stockholm, sogar den Bottnischen Busen hoch, an Finnlands Ufern, wie hoch nach Norden das Baltische Meer sich verläuft, auf den Inseln Bornholm, Gotland, Rügen, im flachen oder gehügelten
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